Zu wenig Wohnheimplätze, zu viele Studenten, die am Existenzminimum leben, zu wenig Bafög – die Welt der Studenten ist in eine Schieflage geraten. Ein Interview mit dem Generalsekretär des Deutschen Studentenwerks, Achim Meyer auf der Heyde.
Herr Meyer auf der Heyde, wie sind die Studenten durch die Corona-Pandemie gekommen?
Das war ja ein ungewöhnliches Semester, mit Online-Vorlesungen, mit Studierenden, die ihre Jobs verloren haben, wieder nach Hause gezogen sind und zu den Prüfungen extra anreisen mussten. Viele Unis haben darauf reagiert und werten das Sommersemester 2020 nicht als vollständiges Semester – das ist für diejenigen, die Bafög beziehen, wichtig, weil das Semester nicht auf die Studienzeit angerechnet wird. Deutlich geworden ist, dass wir ein strukturelles Studienfinanzierungsdefizit haben.
Defizit? Aber die Studenten haben doch laut Statistik um die tausend Euro zur Verfügung. Da kann es ihnen doch gar nicht so schlecht gehen, oder?
Im Schnitt sind es 918 Euro, keine 1.000, der Median liegt bei 860 Euro. Aber etwa 27 Prozent müssen mit weniger als 700 Euro zurechtkommen, darunter sind 14 Prozent, die nur 600 Euro und weniger haben. Bei denen, die vielleicht tausend Euro und mehr haben, sollte man nicht die vergessen, die schon eine Familie ernähren müssen. Defizit bedeutet, dass jeder fünfte Studierende unter prekären oder fast prekären Bedingungen leben muss.
Aber es gab doch die Überbrückungshilfe. Haben Sie einen Überblick, wie viele die bekommen haben?
Die Überbrückungshilfe der Bundesregierung ist als kurzfristige, nicht rückzahlbare Nothilfe angelegt. Stand heute haben wir 210.000 Anträge, inklusive September, davon werden 60 Prozent gefördert. Knapp 40 Prozent mussten abgelehnt werden, und von diesen haben die Hälfte die Kriterien nicht erfüllt. Sie sind zwar in einer Notlage, aber die bestand schon vorher und ist nicht durch die Pandemie verursacht.
Und die anderen Abgelehnten, was konnten die machen?
Daneben gibt es noch ein für zehn Monate zinsfrei gestelltes Darlehen der KfW. Oder Studierende können bei Einkommensverlust einen Bafög-Antrag stellen. Manche beantragten auch Hartz IV. Aber das ist es, was ich mit dem Finanzierungsdefizit meinte: Wenn so viele Studierende nur 600 oder vielleicht 700 Euro haben, dann sind zu viele in einer prekären Situation. Da müsste sich etwas ändern.
Hat sich denn die Wohnsituation der Studenten verbessert?
Nein. Wir hatten zwar einen leichten Nachfragerückgang im Sommersemester an einzelnen Standorten, weil die internationalen Studenten in der Corona-Zeit wegblieben. Und weil etwa zehn Prozent der deutschen Studierenden nach Hause zurückgezogen sind, um Kosten zu sparen. Doch in allen Großstädten konkurrieren die Studenten nach wie vor mit einkommensschwachen Bevölkerungsgruppen um preiswerten Wohnraum – ob nun in Köln, Hamburg, München oder Berlin.
Und die kleineren Standorte?
In Jena, Rostock, Leipzig zum Beispiel haben Sie das gleiche Problem, und die, die in Cottbus oder Frankfurt/Oder studieren, wollen zum Teil lieber in Berlin wohnen und pendeln.
Dass es zu wenig Wohnheimplätze gibt, weiß man ja alles seit Langem. Warum werden dann trotzdem keine Studentenwohnheime gebaut?
Es wurden ja welche hochgezogen, aber die Schere zwischen staatlich geförderten Studienplätzen und staatlich geförderten Wohnheimplätzen ist weiter auseinandergegangen. Seit 2007 hat die Zahl der Studierenden um knapp 50 Prozent zugenommen, von 1,9 auf 2,9 Millionen – und die Zahl der Wohnheimplätze nur um 8,5 Prozent. Noch in den 1990er-Jahren erlangten nur 34 Prozent eines Jahrgangs die Hochschulzugangsberechtigung. Heute machen 58 Prozent das Abitur oder erwerben eine vergleichbare Studienberechtigung. Und die Zahl der internationalen Studierenden stieg von 120.000 auf 380.000. Wir fordern ein Wohnungsbauprogramm von Bund und Ländern mit mindestens 25.000 neuen Plätzen, um die Situation zu entlasten.
Und wieso geht trotzdem die Zahl der Bafög-Empfänger ständig zurück?
Das liegt daran, dass das Bafög nicht mit der Einkommensentwicklung mitgezogen ist. Der Anteil derer, die überhaupt Bafög-berechtigt sind nach dem Einkommen der Eltern, ist von 2007 bis 2017 von 71 auf 63 Prozent gesunken. Nachdem lange Zeit nichts passiert ist, wurden die Elternfreibeträge zwar 2016 und 2019 angehoben, aber durch die Steuerprogression wurde da vieles wieder wegbesteuert. Wir stellen heute fest, dass viele Eltern zu viel verdienen, damit ihre Kinder Bafög beantragen zu können, aber zu wenig, um die Kinder angemessen zu unterstützen. Dazu kommt, dass die Förderung nur über die Regelstudienzeit geht. Doch die meisten beenden ihr Studium zwei Semester danach. Da gibt es eine Lücke.
Aber haben nicht alle durch die Online-Uni im Sommer Geld gespart? Weniger Miete, weniger Unterhaltskosten für die Gebäude, weniger Reisekosten?
Ich höre von vielen Studierenden, dass sie sich die Präsenz-Uni wieder zurückwünschen. Die Hochschule lebt vom aktiven Austausch zwischen Studierenden und Lehrkräften – und das ist online schwieriger.
Also ist die digitale Hochschule doch keine Zukunftsperspektive?
Nein, ich glaube kaum. Lassen Sie es zehn oder 20 Prozent digitale Angebote sein, die können lernunterstützend wirken, aber der Mainstream wird analog bleiben. In den Naturwissenschaften wie Physik oder Chemie oder in der Medizin geht es schon mal gar nicht online. Da brauchen Sie Labore, Patienten, Geräte. Auch die Bibliotheken sind nicht vollständig digitalisiert.