Vom Fall der Mauer bis zur formellen Wiedervereinigung dauerte es genau 329 Tage. Viel Glück war im Spiel, es hätte auch anders laufen können. Am Ende aber gab es keine realistische Alternative.
Dietmar K. hat Glück, sein Dienst endet an diesem Mittwoch bereits um 16 Uhr. Er schließt noch ordnungsgemäß die Tür zu seinem Dienstgebäude ab, dem Beamten ist leicht melancholisch zumute. Er wird nach 15 Jahren nie wieder dienstlich hierher zurückkehren. Dietmar K. ist Zollinspektor, es ist der 3. Oktober 1990 und das Zollamt Dreilinden an der Berliner Avus hat mit dem heutigen Tag ausgedient. Die Staatsgrenze Berlin (West)/DDR gibt es in wenigen Stunden auch offiziell nicht mehr.
Auch Christian Führer, dem Pfarrer der Nikolaikirche in Leipzig ist an diesem Spätnachmittag komisch zumute. Er steht vor seinem Gotteshaus, schaut den Kirchturm hinauf und erinnert sich: Vor nicht mal einem Jahr waren es auch die Montagsdemonstranten von Leipzig, die nach dem Friedensgebet in seiner Kirche das SED-Regime endgültig ins Wanken gebracht haben. „Vor nicht mal einem Jahr hatten wir noch Träume von einer gerechten DDR-Gesellschaft, und jetzt werden wir wiedervereinigt, aber es war wohl Gottes Wille", schmunzelt damals der Pfarrer in unser Mikrofon mit Wehmut in der Stimme. Auch der Mitbegründerin des „Neuen Forums", Bärbel Bohley, geht es an diesem Abend in ihrer Wohnung in Prenzlauer Berg nicht richtig gut. Sie wollte am runden Tisch einen „Sozialismus mit menschlichem Antlitz" durchsetzen.
Heft des Handelns aus der Hand genommen
Dabei stand für sie, wie für Tausende andere Mitstreiter, die DDR als Staatsgebilde niemals zur Disposition. „Uns ist hier innerhalb von wenigen Wochen, vor allem mit der lockenden D-Mark, komplett das Heft des Handelns aus der Hand genommen worden." Die Bürgerrechtlerin Bärbel Bohley zeichnete damals in einem Interview schon vor, was dann wirklich geschah. Ein Beispiel: Ihre Fünf-Zimmer-Wohnung für damals 68 Mark (der DDR) Miete im Monat ist heute eine Eigentumswohnung. „Wir werden hier kollektiv enteignet werden, unser Volkseigentum wird rausgekauft, die Rechnung zahlen wir Bürger."
Ganz so sieht es ein DDR-Umweltaktivist von damals dann wiederum nicht: Matthias Platzeck. Er war Mitbegründer der DDR-Grünen, wechselte später in die SPD, war Brandenburgischer Umweltminister, später Ministerpräsident des Landes und kurzzeitig SPD-Vorsitzender. „Wenn man ein Staatssystem über Jahrzehnte durch Nichtstun derart ruiniert, muss man sich nicht wundern, wenn es dann innerhalb kürzester Zeit auseinanderbricht." Matthias Platzeck gibt sich im FORUM-Interview heute keiner Illusion hin, „bei aller Heimatverbundenheit, die DDR war nicht mehr zu retten, das System war auf allen Ebenen morsch."
Allerdings ist auch Platzeck heute noch, 30 Jahre später, erstaunt, in welch rasanter Geschwindigkeit die Deutsche Einheit vollzogen wurde. „Das war atemberaubend. Während wir noch tagsüber am runden Tisch im Potsdam das Klein-Klein einer friedlichen Koexistenz der Zweistaatlichkeit diskutiert haben, erfuhren wir abends aus den Nachrichten, dass man in Bonn, Moskau oder Washington schon mit der deutschen Einheit beschäftig war." Diese staatliche Sturzgeburt eines wiedervereinigten Deutschlands ist vor allem den Müttern und Vätern des Grundgesetzes zu verdanken, die den Artikel 23 hineinschrieben. In diesem hieß es: „Dieses Grundgesetz gilt zunächst im Gebiete der Länder Baden, Bayern, Bremen, Groß-Berlin, Hamburg, Hessen, Niedersachsen, Nordrhein-Westfalen, Rheinland-Pfalz, Schleswig-Holstein, Württemberg-Baden und Württemberg-Hohenzollern. In anderen Teilen Deutschlands ist es nach deren Beitritt in Kraft zu setzen." Die andere Teile Deutschlands, das war bei der Verabschiedung des Grundgesetzes am 23. Mai 1949 die „Sowjetisch Besetzte Zone" (SBZ) und ab dem 7. Oktober des gleichen Jahres dann die Deutsche Demokratische Republik (DDR). Mit diesem Artikel 23 wurde im Grundgesetz festgeschrieben, dass die Bundesrepublik Deutschland eine Zweistaatlichkeit niemals akzeptieren wird und die DDR darum niemals als zweiten Staat anerkennen wird. Darum gab es weder in Ostberlin noch in Bonn eine Botschaft des jeweils anderen Deutschlands, sondern nur die „Ständige Vertretung".
„Aber es war ein schleichender Prozess gerade in den 80er-Jahren, der da vor sich ging, die deutsche Teilung dann doch noch zu akzeptieren. Die gab es übrigens nicht nur bei den Grünen, oder der SPD, sondern auch bei uns in der CDU", so Eberhard Diepgen im FORUM-Interview (Seite 26). Diepgen war der Regierende Bürgermeister von Westberlin und hat ebenfalls den Prozess der Wiedervereinigung intensiv miterlebt. Nach dem Mauerfall und dann dem Zehn-Punkte-Plan von Helmut Kohl, keine drei Wochen später, gehörte Diepgen zu einem der Kritiker Kohls. Er forderte, die Bundesrepublik müsse dringend auf die Einheit in diesem Plan bestehen. „Denn darin ging es nicht um eine Wiedervereinigung, er sprach von einer möglichen Konföderation. Ich forderte, jetzt gehört die Deutsche Einheit auf die politische Tagesordnung! Ich sehe ihn noch in heftigem Disput vor mir stehen. Sein Argument: Wir aus dem Westen dürfen das jetzt nicht fordern. Thatcher, die britische Premierministerin und auch Mitterrand, der französische Staatschef, würden dagegen Sturm laufen. Die Forderung muss von den Menschen der DDR ausgehen. Er hatte Recht".
Aber nicht nur Großbritannien und Frankreich sind wenig erbaut von der anstehenden Einheit, sondern auch die Sowjetunion versucht den Zug der Deutschen Einheit aufzuhalten. Vor allem in der Roten Armee brodelt es. Staatschef Michail Gorbatschow wird von der Generalität der Westgruppe, im März 1990, zu einem Besuch bei ihnen in der DDR gedrängt. Fast 500.000 Rotarmisten sind in der DDR stationiert und wollen dort auch bleiben, weil die Lebensverhältnisse in der DDR wesentlich besser sind als daheim in der UdSSR. Gorbatschow sollte auf deutschem Boden direkt nach seiner Landung verhaftet und wegen Landesverrats vor ein Militärgericht gestellt werden.
Gorbatschow, tragischer Held der Einheit
Doch er wurde von seinem außenpolitischen Berater Valentin Falin gewarnt. Gorbatschow sagte die Reise zur Westgruppe ab. Wäre es zu dem Militärputsch gekommen, hätte es die Deutsche Einheit in der Form vermutlich nie gegeben. Valentin Falin ist damit in doppelter Hinsicht einer der Väter der Einheit. Denn die eigentliche Idee zum Zehn-Punkte-Plan kam ebenfalls von ihm, so Falin in einem Gespräch in den 90er-Jahren. „Wir wussten damals direkt nach dem Mauerfall im Kreml nicht, was die Westdeutschen vorhatten, und daraufhin wurde ich nach Bonn geschickt, um mal anzuklopfen. Ich stellte mehr oder weniger zehn Fragen und mein Gegenüber war basserstaunt, dass wir in Moskau bereits wenige Tage nach der Maueröffnung die Wiedervereinigung diskutieren." Falins Darstellungen sind glaubwürdig, sind sie doch von den Handelnden aus der ehemaligen Bundeshauptstadt Bonn, als auch von Gorbatschow persönlich bestätigt worden.
Michail Sergejewitsch Gorbatschow ist ein wahrhaft tragischer Held der Einheit. In Deutschland liegen ihm die Herzen zu Füßen. Er war es, der erlaubte, den Eisernen Vorhang im Juli 1989 in Ungarn zu lupfen.
In Russland gilt Gorbatschow aber als Totengräber der siegreichen Sowjetunion. Ein Offizier des sowjetischen Geheimdienstes KGB, der damals in Dresden diensthabend war, heißt übrigens Wladimir Putin.
Dass der 3. Oktober zum Tag der Deutschen Einheit wurde, ist übrigens Helmut Kohl zu verdanken. Kohl wollte unter allen Umständen verhindern, dass die DDR noch ihren 41. Geburtstag am 7. Oktober 1990 feiern kann.