Die Tour de France ist mit dem Sieg des Slowenen Tadej Pogacar zu Ende gegangen. Doch das war erst der Auftakt in einen heißen Radsport-Herbst: Corona hat den Rennkalender durcheinandergewirbelt, mehrere große Rennen finden sogar zeitgleich statt. Bereits ab dem 3. Oktober geht es mit dem Giro d’Italia weiter.
Sein Team schien schon etwas geahnt zu haben. Zumindest hatten die Verantwortlichen vom UAE Team Emirates direkt eine gelbe Mund-Nasen-Maske in den Farben des Tour-Führenden parat, die sich Tadej Pogacar nach seinem famosen Ritt zur Planche des Belles Filles aufsetzte. Der Rest der Radsport-Welt hingegen konnte erst gar nicht begreifen, was sich da soeben beim Einzelzeitfahren am vorletzten Tag der Tour de France abgespielt hatte. In einem dramatischen Finale hatte Pogacar seinem slowenischen Landsmann Primoz Roglic den sichergeglaubten Gesamtsieg noch entrissen. Aus 57 Sekunden Rückstand vor dem Zeitfahren machte Pogacar im Kampf gegen die Uhr noch einen Vorsprung von 59 Sekunden. „Das war eine der besten Performances, die wir je im Radsport gesehen haben. Absolut unglaublicher Sieg von Tadej Pogacar", war anschließend nicht nur Ex-Profi Lance Armstrong sichtlich beeindruckt.
Im Gelben Trikot rollte Pogacar auf der abschließenden Etappe, auf der der Führende traditionell nicht mehr attackiert wird, nach Paris und feierte damit auf der Champs-Élysées bei seiner ersten Tour-Teilnahme auf Anhieb den Sieg beim wichtigsten Radrennen der Welt.
Nach Platz drei bei der letztjährigen Vuelta a España war es überhaupt erst die zweite große Rundfahrt für Pogacar. Mit zu diesem Zeitpunkt 21 Jahren ist er der zweitjüngste Tour-Sieger der Geschichte; lediglich der damals 19-jährige Henri Cornet war bei seinem Erfolg 1904 noch jünger als er. Vor seinem Triumph im Zeitfahren hatte Pogacar auch schon zwei schwere Bergetappen der diesjährigen Tour de France für sich entschieden. Er beendete die Frankreich-Rundfahrt damit auch als Träger des Bergtrikots sowie als bester Jungprofi – das war vor ihm noch keinem Fahrer gelungen.
Pogacar feiert Sieg bei erster Tour-Teilnahme
Primoz Roglic dagegen, der das Klassement seit der neunten Etappe angeführt und fast zwei Wochen das Gelbe Trikot getragen hatte, stand am Ende mit leeren Händen da. Der ehemalige Skispringer hatte zuvor schon vier Zeitfahrten bei großen Rundfahrten gewonnen und galt auch dieses Mal als klarer Favorit. Niemand rechnete damit, dass ihm der Sieg auf der vorletzten Etappe noch entgleiten könnte. Doch im entscheidenden Moment ließ ihn sein Körper im Stich. Die Beine wurden schwer, der Helm rutschte ihm beinahe vom Kopf. Im Ziel musste er die Überlegenheit seines Rivalen eingestehen: „Ich hatte einfach nicht genug Kraft. Tadej war in einer eigenen Welt", sagte Roglic. Dass auch der zweite Platz im Gesamtklassement seine bislang beste Platzierung bei der Tour de France bedeutete, nach Platz vier im Jahr 2018, dürfte den Weltranglistenersten kaum getröstet haben.
Roglic war jedoch nicht der Einzige, für den der Saisonhöhepunkt nicht nach Plan verlief. Als größter Verlierer der diesjährigen Tour gilt vor allem das Team Ineos Grenadier, mit einem Budget von 40 Millionen Euro der Rennstall mit dem wahrscheinlich größten Potenzial. Zahlreiche Top-Stars treten für den Nachfolger des früheren Sky-Teams in die Pedale, was Teamchef Dave Brailsford vor der Tour vor die Qual der Wahl stellte, wen er für die Frankreich-Rundfahrt nominieren sollte. Er entschied sich letztlich für den Kolumbianer Egan Bernal als Kapitän, den Sieger von 2019, der in diesem Jahr jedoch von seiner Bestform weit entfernt war. Mit Pogacar und Roglic konnte Bernal nicht mithalten und stieg schließlich vor der 17. Etappe vorzeitig aus. Eine große Enttäuschung für Ineos nach zuvor sieben Tour-Siegen in den vergangenen acht Jahren.
„Bei diesem Rennen nimmst du deine Big Player mit"
Zugunsten von Bernal hatte Brailsford auf die Teilnahmen von Geraint Thomas (Wales), dem Tour-Sieger von 2018, sowie von Christopher Froome verzichtet, der die Rundfahrt 2013, 2015, 2016 und 2017 gewonnen hatte. Im Fall von Froome kann man das vielleicht noch verstehen: Nach seinem schweren Sturz im Juni 2019, als er beim Critérium du Dauphiné von einer plötzlichen Windböe erfasst wurde, mit hoher Geschwindigkeit gegen eine Hauswand prallte und sich dabei einen Oberschenkel, die Hüfte, einen Ellenbogen und mehrere Rippen brach, hat der Brite immer noch nicht zurück zu alter Form gefunden. Er wird ab 20. Oktober bei der Vuelta a España an den Start gehen. Geraint Thomas dagegen, der Vorjahreszweite, präsentierte sich gerade bei der Rundfahrt Tirreno-Adriatico in starker Verfassung und hätte Ineos sicher auch bei der Tour de France sehr geholfen. Ex-Champion Bradley Wiggins (Großbritannien), einst selbst bei Ineos, kritisierte die Entscheidung von Teamchef Dave Brailsford: „Bei einem Rennen wie diesem nimmst du deine Big Player mit", sagte er. Allein „ihre Präsenz beim Abendessen, auf den Flachetappen oder auf der Startliste" habe schon eine Wirkung. Im aktuellen Ineos-Aufgebot habe dagegen „eine Führungsfigur, die sagt, wo es langgeht", schmerzlich gefehlt.
Und Wiggins ging sogar noch weiter: „Wären wir beim Fußball, wäre Dave Brailsford entlassen!", so der Tour-Sieger von 2012. Dieser verteidigte seine Wahl. Die Leute könnten ihre Meinung vertreten, „aber sie kannten nicht die Fakten, die ich kannte", sagte Brailsford. Dass er ebenfalls enttäuscht sei, daraus machte er allerdings keinen Hehl: „Ab und zu brauchst du einen Tritt in die Eier, um wieder in die Spur zu finden."
Immerhin hat Ineos in diesem Jahr die schnelle Chance zur Wiedergutmachung. Corona hat den Rennkalender im Radsport durcheinandergewirbelt – mit der Folge, dass alle drei großen Rundfahrten, also die Tour, der Giro d’Italia und die Vuelta a España, in kurzer Folge hintereinander stattfinden. Giro und Vuelta überschneiden sich in diesem Jahr sogar um einige Tage – die Fahrer müssen sich deshalb entscheiden, an welcher der beiden Touren sie teilnehmen möchten. Kein ganz glücklicher Umstand, aber: „Um den Fortbestand der Rennen zu gewährleisten, mussten angesichts der kurzen Zeitspanne, in der alle Rennen der Saison miteinbezogen werden mussten, einige Opfer gebracht werden", wie Giro-Organisator RCS Sport mitteilte.
Die Italien-Rundfahrt, die eigentlich im Mai geplant war, startet nun am 3. Oktober und soll nach drei Wochen am 25. Oktober enden. Auch die Strecke musste wegen Corona angepasst werden: Der Auftakt findet nicht wie geplant in Ungarn statt, sondern auf Sizilien. Den Anfang macht ein 15 Kilometer langes Einzelzeitfahren von Monreale nach Palermo. Nach drei Wochen endet der Giro ebenfalls mit einem Einzelzeitfahren in Mailand. Für Ineos Grenadier geht Geraint Thomas als Kapitän ins Rennen, der damit zum ersten Mal seit 2017 wieder bei der Italien-Rundfahrt dabei ist. Damals war er auf der neunten Etappe mit einem Polizeimotorrad kollidiert und hatte das Rennen vorzeitig aufgeben müssen. Das diesjährige Streckenprofil mit insgesamt sogar drei Einzelzeitfahren kommt dem Waliser durchaus entgegen. Sollte er beim Giro tatsächlich gewinnen, würde die Kritik an der Personalentscheidung von Teamchef Brailsford, bei der Tour de France stattdessen auf Egan Bernal gesetzt zu haben, wohl erneut aufflammen.
Peter Sagan erstmals beim Giro dabei
Thomas größter Konkurrent um den Sieg dürfte der Italiener Vincenzo Nibali sein, der seine Heim-Rundfahrt schon zweimal (2013 und 2016) gewonnen hat. Auch bei der Tour de France (2014) und bei der Vuelta a España (2010) stand er in der Vergangenheit schon ganz oben auf dem Treppchen. Auch der Däne Jakob Fuglsang und der Brite Simon Yates gehen mit großen Ambitionen an den Start. Yates war schon 2018 nah dran am großen Coup, als ihm drei Etappensiege gelangen und er insgesamt 13 Tage im Rosa Trikot des Führenden verbrachte, bevor er in der letzten Woche einbrach. Dagegen ist Titelverteidiger Richard Carapaz dieses Mal nicht am Start: Der Mann aus Ecuador fuhr bei der Tour de France und wird Ende des Monats auch bei der Vuelta antreten.
Erstmals beim Giro d’Italia dabei ist Peter Sagan, der es auf das Trikot für den besten Sprinter abgesehen hat. Bei der Tour de France hat der Slowake dieses schon siebenmal gewonnen – in diesem Jahr jedoch musste er es dem Iren Sam Bennett überlassen. Sagan beendete die Tour ohne einen einzigen Etappensieg und ist beim Giro ebenso wie Ineos Grenadier auf Wiedergutmachung aus. Für den Start bei der Italien-Rundfahrt verzichtet er sogar erstmals in seiner Karriere auf die beiden zeitgleich stattfindenden Ein-Tages-Rennen Flandern-Rundfahrt und Paris-Roubaix. Wegen Corona wurden zahlreiche Ein-Tages-Klassiker, die normalerweise im Frühjahr ausgetragen werden, in den Herbst verlegt, wo sich jetzt auch prominente Rennen überschneiden. Die Tour de France war in diesem Jahr erst der Auftakt in einen heißen Radsport-Herbst.