Die EU-Kommission kommt nach der Katastrophe auf Lesbos mit ersten Vorschlägen für eine Reform der Asylpolitik heraus. Sie kann bislang nicht überzeugen. Das ungelöste Hauptproblem ist die Rückführung.
Auf der Insel Lesbos wird ein neues Flüchtlingslager errichtet werden, als Ersatz für das in der Nacht vom 8. zum 9. September abgebrannte. Es soll das alte, immerhin größte Flüchtlingslager in der EU nicht einfach nur ersetzen, es soll besser werden. „Es wird auch die Fahne Europas tragen", verkündete der griechische Ministerpräsident Kyriakos Mitsotakis. Tatsächlich hat die EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen nach der Brandkatastrophe von Moria auf der griechischen Insel, die 12.700 Menschen über Nacht obdachlos machte, angekündigt, dass ein neues Lager errichtet werde, und zwar unter Beteiligung der EU. Wir werden ein gemeinsames Pilotprojekt mit den griechischen Behörden aufsetzen für das Management eines Aufnahmezentrums auf Lesbos, sagte von der Leyen.
Auf den ersten Blick sieht das so aus, als sei das ein Eingeständnis für das Scheitern der Griechen im Umgang mit den Flüchtlingen. Man kann es auch anders sehen: Dass die EU nun auf die griechische Linie eingeschwenkt ist. Mitsotakis hätte die Brandkatastrophe auch als Gelegenheit nutzen können, die Flüchtlinge aufs Festland und dann weiter nach Deutschland und andere zentrale EU-Staaten zu „schicken". Immerhin hat die deutsche Regierung nun angeboten, 1.553 Flüchtlinge von mehreren griechischen Inseln aufzunehmen. Allerdings kommen keine Asylbewerber, sondern nur Flüchtlinge mit abgeschlossenem, anerkanntem Asylverfahren.
Das ist ziemlich entscheidend. Ansonsten hätte man das Asylverfahren der Griechen übergangen, und das zentrale Prinzip des EU-Asylsystems ausgehebelt. Es besagt, dass die Asylverfahren dort stattfinden, wo ein Flüchtling zum ersten Mal EU-Boden betritt. Dieses EU-Asylsystem ist bekannt unter dem Namen Dublin 2.
Dublin 2 passt nicht mehr
Hätte man anders entschieden, wären neue Anreize entstanden, etwa, dass man durch politischen Druck ein Asylverfahren in Deutschland oder einem anderen Land erzwingen kann. Genau deshalb hatte es Mitsotakis eigentlich abgelehnt, Flüchtlinge aus dem zerstörten Lager überhaupt in andere EU-Länder zu verteilen.
Dabei ist allen, mit denen man spricht klar: Das Prinzip Dublin 2 funktioniert nicht. Die Länder an der Südgrenze, vor allem Griechenland und Italien, sind völlig überlastet. Dieses System sei gedacht gewesen für ein paar wenige Flüchtlinge, die in früheren Zeiten Diktaturen entflohen sind, und passe nicht mehr auf die heutige Realität, sagte EU-Kommissions-Vizepräsident Margaritis Schinas. Aber was ist die Alternative?
Es war Zufall, dass die EU-Kommission wenige Tage später ihren ersten Vorschlag für einen neuen Migrations- und Asylpakt präsentiert hat. Er war schon lange angekündigt und muss nun erst von den 27 EU-Regierungen diskutiert und beschlossen werden. Da kann noch viel passieren. Gelingt ein großer Wurf, könnte das eines der bedeutendsten Projekte der deutschen Präsidentin von der Leyen werden. Aber das ist äußerst unwahrscheinlich. Die wichtigste Idee des Paktes erscheint geradezu kurios.
Relativ konsensfähig dürfte noch sein, dass Neuankömmlinge ein Asylverfahren im Schnelldurchgang bekommen sollen, die keine Aussicht auf einen internationalen Schutzstatus haben. Das entscheidende Problem aber ist die Verteilung der Flüchtlinge insgesamt. Einige Länder, vor allem Polen und Ungarn weigern sich strikt, überhaupt Flüchtlinge, die über Südeuropa in die EU kommen, aufzunehmen. Die Aufteilung nach irgendeiner Quote hat in der EU keine Chance. Daher kam die EU-Kommission, offenbar unterstützt von der Bundesregierung, auf eine neue Idee: Mitgliedsstaaten sollen die Aufnahme von Flüchtlingen verweigern können, wenn sie eine „Gegenleistung" erbringen: Diese besteht darin, die Verantwortung für die Abschiebung abgelehnter Asylbewerber zu übernehmen. Wie das funktionieren soll, ist rätselhaft.
Tatsächlich scheitert die Abschiebung abgelehnter Asylbewerber systematisch schon seit vielen Jahren. Das liegt vor allem an den Herkunftsländern in Afrika oder Asien. Diese haben keinerlei Interesse, ihre geflohenen und ausgewanderten Staatsbürger zurückzunehmen. Sie verweigern die Zusammenarbeit, und wenn die Nationalität mangels Papieren nicht nachgewiesen werden kann, wird es schwierig. Seit Jahren wird versucht, dieses Problem zu lösen, ohne Erfolg. Innenminister Horst Seehofer wäre kaum etwas willkommener als ein Erfolg auf diesem Feld. Gut ist noch in Erinnerung, dass er sich zum 69. Geburtstag unglücklich rhetorisch auf die eigene Schulter klopfte, mit dem Hinweis, ihm seien an dem Tag ebenso viele Abschiebungen geglückt.
Abschiebung scheitert oft
Die Rückführungen sind im ersten Halbjahr 2020 zusammengebrochen auf nur etwa 1.000 Menschen. Die Zahl der ohne legale Aufenthaltsgenehmigungen in Deutschland lebenden Asylbewerber liegt aber bekanntlich bei mehreren hunderttausend. Das Scheitern hat nicht (nur) mit Corona zu tun. Auch 2019 hat Deutschland nur rund 4.000 Menschen in Länder außerhalb der EU abschieben können. Das funktioniert praktisch nur bei Ländern, denen Deutschland in Form spezieller Abkommen als Gegenleistung etwas bieten konnte. Wie kleinen Ländern wie Polen und Ungarn das besser gelingen soll, ist ein Rätsel.
Dabei ist klar, dass eine Reform des EU-Asylsystems nötig ist. „Ein Anreizsystem, das Menschen dazu verleitet, sich erst in Not zu begeben, um aus dieser dann in einer humanitären Aktion ins vermeintliche Paradies gerettet zu werden, ist pervers und nicht human. Unsere Humanität darf sich nicht auf Menschen in Not beschränken. Wir müssen Wege schaffen, bei denen Menschen gar nicht erst in Not geraten", schreibt Theo Rauch, Migrationsexperte und Honorarprofessor an der FU Berlin.
Es müsste zur Begrenzung der Zahl der Zugelassenen ein faires, rechtsstaatliches und bedarfsgerechtes Auswahlverfahren in den Herkunftsländern selbst geben, das an die Stelle der derzeitigen Abschreckungstaktik an den EU-Grenzen tritt.
Dabei könnte ein besonderer Vorschlag zum Zuge kommen: Rauch denkt an befristete Aufenthaltsgenehmigungen mitsamt einer Regelung für eine Rückkehr. Das hätte den Effekt, dass es die Attraktivität einer Auswanderung, also den sogenannten Pull-Effekt, senken würde.
Grundsätzlich ist vielen Migrationsexperten klar: Nur wenn es faire Chancen einer regulären Einwanderung in nennenswerter Größenordnung gibt, ist eine „harte" und effektive Kontrolle an den EU-Außengrenzen politisch vertretbar. Grenzregelungen und Einwanderungspolitik gehören zusammen.