Die „Kurpfalz Weinstuben“ könnten sich auf ihrer langen Geschichte ausruhen. Das tun sie aber nicht. Dafür sorgen Vincenzo Berényi mit Weinwissen und Temperament sowie Sebastian Schmidt mit fein ausgearbeiteter, moderner deutscher Küche.
Wir werden am 19. Dezember 85 Jahre alt“, erzählt Vincenzo Berényi bei unserem Besuch in den „Kurpfalz Weinstuben“. Wir fassen es kaum, dass es ein so langlebiges Westberliner Gastronomie-Urgestein gibt, als wir an einem Spätsommer-Nachmittag gut besonnt auf der Innenhof-Terrasse sitzen, trinken und essen. Am Nebentisch steht ein Paar auf. „Die Weinstuben sind genau so alt wie ich“, sagt die Frau zu Inhaber Berényi beim Hinausgehen. Gut möglich, dass sie und ihr Mann am 20. Dezember zur sonntäglichen Geburtstagsfeier der Charlottenburger Flüssigtrauben-Instanz erscheinen. Dann wird ab 13 Uhr der nicht runde, aber doch überaus bemerkenswerte Geburtstag mit Gastköchen wie Yannic Stockhausen, Kolja Kleeberg, Gal Ben Moshe, Anthony Joynes, Anabela Campos-Neves und „mindestens zwölf Winzern“ gefeiert.
Bewegung werden die Gäste nicht nur auf den Tellern und beim Wein, sondern ebenfalls wortwörtlich haben: Zwei Busse mit Cooking-Stationen sollen vor dem Haus stehen und den Gastköchinnen und -köchen genügend Entfaltungsspielraum bieten.
Die Stammgäste wissen, was sie an „ihrem“ Lokal haben. Das Paar vom Nachbartisch kommt seit 1956 jeden Samstag in die Weinstuben, verrät Berényi. So lange können der 49-Jährige und sein 44-jähriger Kompagnon und Küchenchef Sebastian Schmidt naturgemäß noch nicht am Start sein. Berényi und Schmidt übernahmen im November 2015. Familiär geht es in den fünf Zimmern der „Weinstuben“ in der Hinterhaus-Erdgeschosswohnung sowie auf der baum- und blumenumstandenen Terrasse zu. Man kennt einander, hält ein Schwätzchen. Weinexperte Berényi empfiehlt oder weiß, was seine Gäste im Glas und auf den Tellern gerne haben.
Stolze 923 Positionen auf der Weinkarte
Das können die gebratenen Steinpilze mit „Berliner Flammkuchen“, wie ich das mit Käse, Speck und Schmand gratinierte Bauernbrot bezeichne, und fruchtigem Tomatensalat sein. Oder das butterweiche und in seiner Panade goldgelb gebratene Kotelett vom Duroc-Schwein mit currywürzigem Spitzkohlsalat, Perlzwiebeln mit Lavendel und Kartoffelgratin beim italienischen Feinschmeckerfotografen.
Die Freundin von den Philippinen dagegen holt Geschmackserlebnisse nach, die sie bei ihrer Großmutter in Manila verpasst hatte. Sie probiert von den deutschen Weinbergschnecken, die in den „Kurpfalz Weinstuben“ ein Lieblingsgericht sind. Nur die dreieinhalb Stunden in einem gemüsigen Sud gekochte Laufsohle der Zuchtschnecken wird in einer Riesling-Kräuterbutter serviert und verzehrt. Die Foodie-Freundin meint: „Sie schmecken gut. Ihre Textur ist sehr weich.“ Philipp Kuhn, einer der mit vielen Flaschen vertretenen Winzer aus der Pfalz, darf uns mit einem 2015er Kallstadter Steinacker Riesling dazu erfreuen.
Die „Kurpfalz Weinstuben“ sind trotz dunkel vertäfelter Wände, Möbel und Rebenholz-Schnitzereien und ihrer unendlich langen Existenz kein museales Lokal. Man spielt mit der prominentengespickten Historie des 1935 von Aenne und Bruno Müller gegründeten und 1975 von Rainer Schulz fortgeführten Lokals, die auf der Website ausführlich nachzulesen ist. Doch die Mitarbeiter bringen ihre eigenen, jetztzeitigen Einflüsse ein, erzählt Berényi. „Unser Koch Orlando Macias ist halb Katalane, halb Ecuadorianer. Von ihm stammen die Hechtkroketten auf der Karte.“ Katalonische Tapas lassen grüßen und dürfen mit Klassikern wie „Handkäs mit Musik“ oder „Weinstubensalat“ wetteifern.
Selbst ein Stammgast liefert regelmäßig Gemüse. Zum Steinbuttfilet mit Artischockencreme und -chips, tomatisiertem Fenchel und meerigen Passepierre-Stängeln liegt „Edgars Garten-Mangold“ auf dem Teller, wie Küchenchef Sebastian Schmidt verrät. Er richtet seine Karte „möglichst deutsch und auch regional“ aus. „Ich verwende nur Produkte, hinter denen ich stehe.“ Die Gäste ordern meist zwei oder drei Gänge, nicht nur einen Happen zum Wein. Das abendliche Menü mit drei oder vier Gängen für 36,90 oder 45,90 Euro und die Weinbegleitung für 15,90 oder 19,90 Euro machen die Entscheidung leicht. Auch das Mittagsmenü mit einer Vorspeise und einem Hauptgericht für 16,90 Euro ist ein attraktiver Reinschmecker.
Hepa-Feinstfilter für die kalte Jahreszeit
Bei aller erfreulichen Entwicklung hin zum guten Essen à la Restaurant: „Wir sind eine Weinstube, das sollte man nicht vergessen“, sagt Schmidt. Genau! Wir vertrauen beim Wein der Expertise vom Weinchef und Sommelier Vincenzo Berényi. In der zweiten Essensrunde sind wir mit einem Pfälzer Weißen von Thomas Dollt von den Terrassen Riesling 2019 dabei. Bei den Vorspeisen findet sich eine „Winzer-Vesper“ mit „Hausmacher Wurstsorten von Bauer Fink“ wieder. Bei den Hauptgerichten bietet ein „Pfälzer Blatt“ mit Saumagen, Leberknödel, Bratwurst, Rieslingsauerkraut und Kartoffelstampf eine solide Grundlage für sämtliche Weinexzesse.
Das Potenzial dazu haben die „Kurpfalz Weinstuben“: „Wir haben 923 Weine im Keller und in den fünf Räumen“, sagt Berényi. Neben vielen Pfälzern dürfen auch Franken, Rheinhessen, der Rheingau, die Mosel und die Nahe mitspielen. „Von Philipp Kuhn etwa können wir viele Jahrgangsvertikalen anbieten.“ Die Weine werden als 0,1er im Glas, in 0,25-Liter-Schoppen oder flaschenweise verkauft, letztere ebenfalls zum Mitnehmen. Bei den Schoppen steht bei den Preisen meist eine 7 vor dem Komma.
Berényi und Schmidt haben schon im Sommer einiges dafür getan, um ihre Räume sicherer zu machen und ihren Gästen auch in der kälteren Jahreszeit ein gutes Gefühl beim Aufenthalt zu verschaffen. Denn die ursprünglich im Vorderhaus beheimateten „Kurpfalz Weinstuben“ befinden sich nach einem Bombentreffer im Krieg in einer ehemaligen Hinterhauswohnung. Deshalb sind sie, obwohl direkt am Adenauerplatz, hinter einem schmuckbefreiten 60er-Jahre-Durchgang nicht ganz einfach zu finden. Für sämtliche Räume wurden Hepa-Feinstfilter angeschafft sowie zusätzliche Heizgeräte. „Alle halbe Stunde reißen wir die Fenster auf und lüften zehn Minuten“, sagt Berényi. „Wir haben außerdem eine sehr leistungsstarke Lüftung in der Küche. Die stellen wir auf Stufe drei und saugen damit 7.000 Kubikmeter Luft pro Stunde aus dem Gastraum ab.“ Die Inhaber bleiben dennoch vorsichtig, wie sich in der Planung für die Gänsesaison widerspiegelt: „In einem normalen Jahr bestellen wir 1.500 Keulen, dieses Jahr lieber nur 1.000.“
Ob das halbe Dutzend Weinbergschnecken, ein Elsässer Flammkuchen oder Käse von der „Oberstdorfer Käskuche“ – die kleinen Gerichte, die gut zu einem Glas oder Schoppen passen, liegen zwischen 7,90 und 10,90 Euro. Für letzteres gibt’s einen gepökelten Kasslernacken mit Pfifferlingen, Meerrettichcreme und Zwiebelvinaigrette oder ein rosa gegartes Roastbeef mit Rucola, schwarzen Tomaten, Chimichurri und einem Blutwurst-Raviolo. Der sieht einer südamerikanischen Empanada zum Verwechseln ähnlich und beißt sich auch so knusprig, ist aber tatsächlich ein Italiener. „Die Ravioli sind aus Pastateig und werden anschließend frittiert“, erläutert Sebastian Schmidt. „So kommt Textur rein.“ Stimmt.
An anderes kommt wiederum „ein bisschen mehr Power“ heran – so an den Blumenkohl polnischer Art. Der wird im Ganzen gedämpft. Das „Polnische“ sind ein gekochtes Ei und die gebräunten Brösel, die den Geschmack boosten. Grenaille-Kartoffeln von Bamberger Hörnchen, gekocht, gepellt und mit Olivenöl schick gemacht, sowie ein paar Tupfen Sauce Choron werden dazu gereicht. Unser Überraschungssieger: Blumenkohl kann auch temperamentvoll und ausdrucksstark! Zum Steinbuttfilet und zum Kohlkopf sind wir beim Wein ebenfalls hocherfreut. Es bleibt uns bei einem 2019er Full of Joy Riesling Kabinett von Christopher Full nicht viel anderes übrig. Frisch ist er, fast schon ein bisschen prizzelig, aber doch von so teenagerhaft tropischer Süße, dass er sich an die Sorbets zum Dessert geradezu anschmiegt. Kirsch-Kokos-, Ananas- und Mango-Kugel sind ein würdig intensiver, aber nicht beschwerender Abschluss unserer kleinen Schlemmerorgie.
Die Karte wird regelmäßig gewechselt
Auf der Karte wird immer wieder durchgewechselt. Dann gibt es Ostseeschnäpel statt Steinbutt, Saumagen statt Sauerbraten. Die Stammgäste freut’s, die Jüngeren, die immer zahlreicher hereinschauen, ebenso. Für Schwung im Glas sorgt Vincenzo Berényi, der wahrscheinlich sämtlich 923 Positionen inklusive Geschmacksprofile in seinem Kopf gespeichert hat und Neues, Passendes oder Kontrastierendes empfiehlt.
Sebastian Schmidt und seine Küchen-Crew wiederum verstehen es, jedes noch so traditionelle Gericht abzustauben und ihm mit Präzision und Überlegtheit eine eigenständige und weltläufige Note zu verpassen. Den nächsten 85 Jahren können die „Kurpfalz Weinstuben“ unter der Regie von Berényi und Schmidt jedenfalls in dieser Hinsicht gelassen entgegensehen.