Jonas Hector will aus privaten Gründen nicht mehr für die Nationalmannschaft spielen. Damit ging er zunächst nicht an die Öffentlichkeit. Und sein Rücktritt fiel auch niemandem auf.
Die unauffällig Jonas Hector in der Nationalmannschaft war, zeigte sich wieder einmal in diesem Oktober. Das DFB-Team bestritt drei sehr mäßige Länderspiele. In einem spielte sogar Nico Schulz links in der Defensive, obwohl der bei Borussia Dortmund weit von einem Stammplatz entfernt ist. Die Frage, warum Jonas Hector nicht nominiert wurde, bekam Bundestrainer Joachim Löw aber die ganze Woche über nicht gestellt, was natürlich vor allem daran lag, dass Hector beim 1. FC Köln zuletzt immer im defensiven Mittelfeld spielte. Und vielleicht auch ein bisschen an seiner Nackenverletzung, die ihn vor und nach den Länderspielen zum Aussetzen in den Ligaspielen des FC zwang. Doch dass diese so langwierig ist, war nicht absehbar. Im Endeffekt ist die Wahrheit wohl die: Es hatte ihn einfach niemand auf dem Schirm.
Das war Jonas Hector schon gewohnt. Es kümmerte ihn nicht. Ja, es war ihm wahrscheinlich sogar recht. Selbst, wenn er spielte, tat er das unauffällig, aber fast immer solide bis gut. „Ich versuche keine Überdinge", sagte Hector mal. Vier Worte, die ihn ziemlich passend charakterisieren. Er wollte nie mehr sein, als er war und war damit doch mehr, als die meisten, die nur etwas sein wollen, jemals werden.
Als Hector sich nun aus der Nationalmannschaft verabschiedete, schrieb das Magazin „11Freunde", er habe „dem Ansehen der Nationalmannschaft" gutgetan. „Zwischen all jenen, die mit graffitibesprühten Wolljacken ins Mannschaftshotel reisten und am Abend ihren einstudierten Nachwuchsleistungszentrumsfußball spielten, wetzte Hector verlässlich die linke Seite entlang. Er wirkte auf dem Boden geblieben. Ein Attribut, das beim DFB bekanntlich nur noch selten zu finden ist. Hector wird der Nationalmannschaft fehlen."
Es hatte ihn niemand mehr auf dem Schirm
Dennoch gab es sie natürlich auch, die Spötter, die lästerten, dass jemand, der eh nicht mehr spielt, auch nicht zurücktreten muss. Doch das ist gleich aus mehrerlei Hinsicht unfair und falsch. Zum einen hat Hector, der für den FC weiter spielen wird, seinen Rücktritt aus privaten Gründen vollzogen, und deshalb steht niemandem ein Urteil darüber zu. Im Frühjahr starb sein langjähriger Berater und Freund Rainer Derber. Wenige Monate später der nächste – und noch schlimmere – Schicksalsschlag. Sein älterer Bruder Lucas verstarb nach einer Radtour. Wohl auch deshalb wollte er selbst eben keine theatralische Sache aus dem Rücktritt machen und wählte ihn deshalb zunächst auch nicht öffentlich. Dabei hatte er sowohl Löw als auch seinem Verein schon im Sommer gesagt, dass er nicht mehr zur Verfügung stehe. Erst 24 Stunden nachdem der „Kicker" Mitte Oktober den Rücktritt meldete, machte der FC ihn mit einer Pressemitteilung öffentlich, in der Hector selbst – ebenso übrigens wie Löw – gar nicht zitiert wurde. Und drittens wäre Hector grundsätzlich sehr wohl noch von Löw nominiert worden, sehr wahrscheinlich sogar schon im Oktober, wenn sein Nacken das zugelassen hätte. Denn für den Bundestrainer, der seit seiner schon 14-jährigen Amtszeit auf beiden defensiven Außenbahnen händeringend nach Lösungen suchte, war Hector immer die beste aller Verlegenheitslösungen. Und wahrscheinlich sogar ein bisschen mehr. 43-mal spielte der Auersmacher, an dem zwischenzeitlich sogar der FC Barcelona interessiert war, für die Nationalmannschaft. Nach seinem Debüt als Einwechselspieler stand er bei den anderen 42-mal immer in der Startelf.
Welch prägendes Mitglied der Nationalmannschafts-Geschichte man mit 43 Einsätzen ist, zeigt das Umfeld, in dem Jonas Hector nun verewigt sein wird. Er hat nur unwesentlich weniger Einsätze als Klaus Fischer (45), Jürgen Grabowski, Georg Schwarzenbeck und Benedikt Höwedes (alle 44), genauso viele wie Felix Magath und mehr als Uli Stielike oder Hansi Müller (beide 42). Ja sogar Günter Netzer (37), Stefan Effenberg oder Uli Hoeneß (beide 35) spielten seltener für Deutschland als Jonas Hector. Und natürlich hat nie zuvor ein Saarländer mehr Länderspiele absolviert. Die alte Bestmarke des heutigen U21-Nationaltrainers Stefan Kuntz stand bei 25.
Immer die beste Verlegenheitslösung
Und bei aller Bescheidenheit hat Hector im Nationalteam auch für einen Moment gesorgt, an den sich alle, die damals vor dem Fernseher saßen, für immer erinnern werden. Als er im EM-Viertelfinale 2016 gegen Italien den entscheidenden Elfmeter verwandelte, wurde er das, was er nie sein wollte: ein Volksheld. Deutschlandweit für mindestens einen Tag, im Saarland sicher dauerhaft. Damals läuteten in Auersmacher die Kirchenglocken, die Universität des Saarlandes benannte sich zwischenzeitlich in „Universität des Hectorlandes" um. Und Kabarettist Gerd Dudenhöffer alias Heinz Becker forderte: „Es wäre zu wünschen, dass künftig bei jedem Turnier ein Saarländer dabei ist."
Nachdem auch das zuletzt Kuntz im Jahr 1996 beim EM-Titel gewesen war, war Hector nach 2016 auch beim Gewinn des Confed-Cups 2017 und bei der unglückseligen WM 2018 in Russland dabei. Viele sagen noch heute, dass Deutschland das Auftaktspiel gegen Mexiko nicht mit 0:1 verloren hätte und folgerichtig auch nicht in der Vorrunde ausgeschieden wäre, wenn Hector nicht wegen einer Grippe gefehlt hätte. Hector war eben irgendwie der typische Spieler, dessen Wert man erst dann so richtig ermessen konnte, wenn er gefehlt hat.„Neben all seinen sportlichen Qualitäten haben wir an ihm stets auch seinen tollen Charakter, seine Unaufgeregtheit und sein Vertrauen geschätzt. Mit Jonas konnte man auch reflektiert über Themen abseits des Fußballs sprechen", sagte DFB-Direktor Oliver Bierhoff über einen der wenigen Nationalspieler der vergangenen Jahre, die nie ein Nachwuchsleistungszentrum besucht hatten. Hector habe „nie vergessen, wo er herkommt, und die Werte unserer Mannschaft gelebt". Und auch Kölns Sportchef Horst Heldt zog ausdrücklich seinen Hut. „Ich finde es extrem bemerkenswert, dass er so eine beeindruckende Nationalmannschafts-Karriere hingelegt hat", sagte Heldt: „Und dann die Entscheidung im Stillen trifft und im Stillen transportiert. So kennen und schätzen wir ihn, er macht kein Bohei um seine Person. Er hat einen Weg gefunden, wie er in diesem Fußball-Zirkus zurechtkommt, und ist ein Mensch, auf den man sich zu 100 Prozent verlassen kann." Und als der wird Jonas Hector – bei aller Unscheinbarkeit – den deutschen Fußball-Fans unabhängig von der Dauer seiner Karriere in der Bundesliga im Gedächtnis bleiben.