Der gewählte US-Präsident muss ein hoch polarisiertes Land zusammenführen
Europa ist verzückt. Die Aussicht, dass der Demokrat Joe Biden bald im Weißen Haus sitzt, lässt Fontänen der Freude, wenn nicht gar der Euphorie emporschießen. Der Albtraum Donald Trump scheint sich in naher Zukunft erledigt zu haben. Bundeskanzlerin Angela Merkel, Frankeichs Präsident Emmanuel Macron, EU-Kommissionschefin Ursula von der Leyen: Nach vier Jahren Trump’scher Brachialpolitik lechzen alle nach einer Morgendämmerung in den transatlantischen Beziehungen.
Doch Joe Biden wird sich zunächst um Amerika kümmern müssen. Die USA sind durch die unversöhnliche Gegnerschaft der beiden politischen Hauptlager polarisiert wie nie. Die Corona-Pandemie hat nicht nur für mehr als zehn Millionen Infektionen und einen beispiellosen Absturz der Wirtschaft gesorgt. An der Maske schieden sich die Geister. Sie war der Auslöser für einen Kulturkrieg zwischen Corona-Bekämpfern (Demokraten) und Corona-Leugnern (Republikaner).
Biden ist ohne Frage der richtige Mann zur richtigen Zeit. Wenn jemand das in der Trump-Ära politisch völlig überhitzte Land wenigstens ein bisschen abkühlen kann, dann der fast 78-Jährige. Biden hat nach schweren persönlichen Schicksalsschlägen Empathie gelernt. Schmerzhafte politische Niederlagen haben ihn demütig gemacht. Aufgrund seiner jahrzehntelangen Erfahrung als Senator weiß er, wie man im Kongress Brücken baut und Kompromisse schließt. Als Vize unter Präsident Barack Obama reifte er zu einer Mischung aus Elder Statesman und gütigem Großvater.
So einer hat das Zeug, eine überdrehte Nation zu beruhigen. Aber kann er Amerika versöhnen? Kann er die zwischen Republikanern und Demokraten lodernde Feindseligkeit auflösen? Zweifel sind angebracht. Will Biden wichtige Vorhaben durchsetzen, braucht er die beiden Kammern des Kongresses. Doch im Repräsentantenhaus ist die Mehrheit der Demokraten bei den Wahlen geschrumpft. Im Senat droht ein leichtes Übergewicht der Republikaner.
Biden kann also nicht durchregieren. Der Republikaner Mitch McConnell, der alte und vermutlich auch neue Mehrheitsführer im Senat, wird sehr wahrscheinlich seine knallharte Blockade-Politik aus den Obama-Jahren fortsetzen. Es ist ein destruktives Spiel: Wichtige Projekte des früheren Präsidenten wurden zerschossen. Seit Mitte der 90er-Jahre, als die Gräben zwischen den beiden Parteien neue Tiefen erreichten, blasen die Republikaner zum Generalangriff auf den demokratischen Amtsinhaber. Damals machten sie Front gegen die Steuererhöhungs- und Sozialpolitik von Bill Clinton. Bald dürften Bidens Corona-Hilfspakete und Anschubfinanzierung für kleine Unternehmen im Senat zerpflückt werden.
Ein weiteres Hindernis: Wenn Biden das Land zusammenführen will, muss er zumindest einen Teil der rund 71 Millionen Trump-Wähler mitnehmen. Ein großer Prozentsatz der weißen Arbeiter folgte dem Ruf Trumps, weil diese sich als Verlierer der Globalisierung sehen. Viele US-Firmen waren nach China oder Mexiko abgewandert, weil dort die Lohnkosten niedriger sind oder lukrative Märkte locken.
Etliche Menschen in wirtschaftlich angespannter Lage fühlten sich nicht mehr von den Demokraten repräsentiert. Die traditionelle Mitte-Links-Partei wurde nicht mehr als politische Kraft angesehen, die die Sorgen und Nöte der kleinen Leute ernst nimmt. Ihr Spitzenpersonal steht im Ruf, abgehoben und nah an der Wall Street zu sein. Nach der Finanzkrise 2008/2009 wurden vor allem die großen Banken mit vielen Milliarden vom Staat herausgehauen, für die normalen Arbeiter und Angestellten blieb vergleichsweise wenig übrig, so der Vorwurf. Der Zorn richtete sich zunächst gegen Präsident Obama und später gegen die Präsidentschaftskandidatin Hillary Clinton.
Die Zukurzgekommenen werden nach einer politischen Heimat suchen. Der linke Flügel der Demokraten würde sie nur zu gern aufnehmen. Der Schutz amerikanischer Unternehmen vor Chinas hoch subventionierten Staatsfirmen wird ebenso auf dessen Agenda rücken wie ein ganzes Arsenal protektionistischer Maßnahmen. Biden gerät somit nicht nur vonseiten der Republikaner, sondern auch vonseiten der Demokraten unter Druck. Das engt seinen Spielraum für einen Neustart der Beziehungen zur EU zumindest ein. Ganz so rosig, wie sich das einige ausmalen, dürfte es jedenfalls nicht werden.