Um abenteuerliche Schluchten, verschlungene Waldwege und einige der artenreichsten Lebensräume Europas zu finden, muss man nur bis in den Nordschwarzwald fahren. Rund um Wildberg lernen Besucher eines der ältesten Brauchtümer der Gegend kennen.
Auf den breiten Steintreppen am großen Festplatz in Wildberg wächst zaghaft ein Teppich aus Gras. Hier hätte in diesem Sommer mit Tausenden von Besuchern das größte und älteste Brauchtumsfest des Nordschwarzwalds stattfinden sollen. Erst 2019 wurde es zum Unesco-Weltkulturerbe erklärt. Seit 1723 findet es immer am letzten Juliwochenende zu Jakobi (Erntebeginn) – seit 300 Jahren und quasi nur von den Weltkriegen unterbrochen – statt. Corona hat seiner Stringenz einen historischen Punkt gesetzt. Jetzt bläst der Wind über den verwaisten Platz und lässt die bunten Holzwindräder tanzen. Mit jährlich wechselnden Motiven werden sie von den Dorfkindern bemalt. Radfahrer pausieren am Brunnen. Eberhard Fiedler steht vor dem Fruchtkasten des ehemaligen Dominikanerinnenklosters Reuthin. Das wurde mit Stadtgründung bereits im 13. Jahrhundert vom Hohenberger Fürsten erbaut und 1824 durch einen Brand zerstört. Heute befindet sich hier das Heimatmuseum. Der umtriebige Mittsechziger, der über 40 Jahre für die Stadt Wildberg gearbeitet hat, hat seine Enttäuschung über den coronabedingten Supergau in seiner Heimatstadt Wildberg mit neuem Aktivismus langsam überwunden. Not macht nun mal erfinderisch. Ein enger Kreis von Schäfern und Urgesteinen hatte sich immerhin auf dem Wächtersberg zusammengefunden.
Schäferlauf als Kulturereignis
Dafür hatte Fiedler in diesem Sommer mehr Zeit für sein Hobby: Beim Tauchen in den nahen Seen sah er Hechte statt Hunderte von Schafen. Fiedler ist das Zugpferd des Schäferlaufs und moderiert das viertägige Kultereignis. Er kennt jede in den alten Büchern festgelegte Etappe. Erst als 1828 die Zünfte aufgelöst wurden, wurde das zunächst streng reglementierte Pflichttreffen zu dem, was es heute ist: ein Fest der spielerischen Rituale zu Ehren der Zunft. Den Auftakt macht das immer gleiche Gut-gegen-Böse-Heimattheaterstück „Der Klosterschäfer und des Teufels Puppenspieler". Beim Leistungshüten müssen an die 70 Schäfer immer samstags die gute Zusammenarbeit mit ihrem Hund beweisen. Eine Herde aus 300 ortsansässigen Fremd-Schafen muss dabei dem Rudelhund in exakter Linie folgen und Hindernisse umgehen. Die grafisch beeindruckende Performance ist auf den Fotos, die Fiedler stolz im Vereinsalbum präsentiert, gut zu sehen. Dem Sieger winkt die Ehren-Schäferschippe – ein multifunktionaler Schäferstab, der auch zum Herausziehen störender Disteln auf der Wacholderweide dient. Ein Wettlauf der „ledigen" Schäferstöchter und -söhne „von 300 Schritten – barfuß über das Stoppelfeld" repräsentiert den eigentlichen Schäferlauf. Man freut sich über jeden motivierten Nachwuchs dieser in Baden-Württemberg und auch im deutschsprachigen Raum aussterbenden Zunft, die in den letzten zehn Jahren um 30 Prozent zurückgegangen ist. Der Nördliche Schwarzwald gilt als die Wiege der deutschen Schäfereiwirtschaft. Urkunden belegen, dass hier die Schafzucht schon Ende des 13. Jahrhunderts begonnen hat.
In Wildberg gibt es noch drei Stadtschäfer – ein vierter wacht als Steinskulptur am Ortseingang. Vom Aufmarsch der schmucken Kutschen und Kapellen, von Liedern über die Schwarzwälder Talmühlen, den farbenfrohen Trachtenumzügen, dem Hahnen- und Schäfertanz und der Krönung des Königspaars hört man Eberhard Fiedler erzählen. Der mit bunten Perlen und Pailletten übersäte „Schäppel" – der Schwarzwälder Kopfschmuck der Braut – ist mit anderen Brauchtümern und der Stadtchronologie im Heimatmuseum zu bewundern. Die Fantasie malt auf den leeren Platz ein lebendiges Bild vom Krämermarkt und den roten bengalischen Feuern zur finalen Montagnacht.
Presserummel um ein Uhu-Pärchen in Wildberg
Auch ohne Schäferlauf hat Wildberg einiges zu bieten. Die Region ist ein Geheimtipp, denn der zu Unrecht als „Deutsch-Sibirien" degradierte Nordschwarzwald gilt für viele noch als Terra incognita. Ein bisschen Presserummel habe der gut 10.000 Einwohner zählenden Stadt Wildberg dieses Jahr ein Uhu-Pärchen beschert, erzählt Fiedler. Durch die Stille der Corona-Zeit hat sich diese rare größte europäische Eulenart hier ansiedeln lassen. Mit dicken Teleobjektiven seien hier schon einige Filmteams und Fotografen eingelaufen, um die steingrau gefiederten Gesellen mit ihrem Nachwuchs abzulichten. Beim Zoomen mit der eigenen Fotolinse sitzt Papa Uhu dann auch wie bestellt in einer der prähistorisch anmutenden Nischen der Buntsteinwände, die das Städtchen wie raue kräftige Arme zu umklammern scheinen. Ebenso archaische Eindrücke sammelt man auf dem etwa zweistündigen Waldbad-Spaziergang durch die Lützenschlucht. Ein urwaldartiger Weg führt durch mehrere geologische Zeitalter. Über eine Brücke über den Wildbach geht’s abenteuerlich hinein ins wuchernde Biotop der engen Schlucht. Achtung: Dort begegnet man dem Lützenkrododil! Aber keine Angst, das ist nur eine Gesteinsformation, die aussieht wie ein Krokodil. Wo man unten die Waldfrösche quaken hört, lernt man oben auf der „AugenBlick-Runde" die Vogelperspektive auf Wildberg kennen. Der mit erklärenden Tafeln bespickte Stations-Rundweg ist Teil des Naturparks Schwarzwald Mitte/Nord. Mit seinen 375.000 Hektar gehört er zu den größten Deutschlands. Die Wachholder-, Hecken- und Schlehengäu-Landschaft zählt zu den artenreichsten Lebensräumen Europas. Das hat sie den von April bis November fleißig grasenden Schafen zu verdanken. Ins weitläufige Nagoldtal gebettet liegt der Luftkurort Wildberg wildromantisch mit seiner verschlafenen Schlossruine und der alten Mühle in der Talmulde.
Jüngste Schafhüterin ist zehn Jahre alt
Um dem Schäferlauf doch noch nachzuspüren, führt eine neu konzipierte App den Besucher wie bei einer Schnitzeljagd mit Fragen und Geschichten durch fünf Stationen des ausgefallenen Schäferlaufs. Bei richtigen Antworten gibt’s ein Geschenk im Rathaus. Die interessanteste Station ist vorbei an der historischen Schafscheuer ein Besuch auf Karl Martin Bauers Hof. Als einer der drei noch aktiven Stadtschäfer erzählt er live oder via App über seine Arbeit in achter Generation. Er hütet an die 850 Mutterschafe. Leben könne man von der reinen Schäferei nicht. Früher hatte hier jedes Haus einen Webstuhl. Schafswolle trage sich wirtschaftlich aber nicht mehr – ein Schäfer muss an die 200 Schafe am Tag scheren. Das Lammfleisch sei gefragt. Karls Tochter Jule ist die jüngste Schafhüterin der Region. Mit ihrem zerzausten Blondschopf wirkt sie wie ein Kind aus Bullerbü. Die kecke Zehnjährige ist das Gesicht der Jahreskampagne. Die große Liebe zu ihren freundlich mähenden Vierbeinerinnen sieht man ihr deutlich an. Schon jetzt weiß sie, dass sie die Familientradition am Leben erhalten wird. Damit wäre sie – zum heutigen Stand – eine von 110 Schäfern im Bundesland. Aber erst mal freut sie sich sicherlich auf ihren ersten Stoppellauf und natürlich den nächsten Wildberger Schäferlauf vom 15. bis 18. Juli 2022. In den letzten warmen Tagen läuft sie gern barfuß durch die Ställe – dicht gefolgt von ihrem Ziehschaf Rila. Die beiden sind ein Herz und eine wollig-weiche Seele.