Seit viereinhalb Jahrzehnten widersteht Wolfgang Niedecken jeglichen Trends und Moden und schreibt beharrlich Songs im kölschen Dialekt. Das brachte ihm sogar die Aufmerksamkeit von Bob Dylan und Bruce Springsteen ein. „Alles fließt", das nunmehr 20. Album seiner Band BAP, wartet auf mit treibendem Rock, fröhlichen Reggae-Rhythmen und Gitarren à la Pink Floyd.
Herr Niedecken, Ihr Album beginnt mit einem langen Intro. Sind solche Intros nicht längst passé, weil man beim Streaming nur bezahlt wird, wenn die ersten 30 Sekunden eines Liedes abgespielt werden?
Ich habe überhaupt keine Lust, mich danach zu richten, dass mittlerweile in so vielen Bereichen unseres Business’ der Schwanz mit dem Hund wackelt. Lass den wackeln, den Schwanz, der Hund macht bei uns, was er will! Ich bin Künstler, ich habe Malerei studiert. Ich versuche, mich auszudrücken und dabei nicht an irgendeine Klientel zu denken. Würde „Like A Rolling Stone" heute erscheinen, würde man die Nummer nicht mal im Handbetrieb auflegen. Sie ist ja sechs Minuten lang.
Ist „Jeisterfahrer" ein kulturkritischer Song?
Ja. In dem Jahrzehnt, das mir hoffentlich noch verbleibt, werde ich mich an diese Dinge nicht gewöhnen und mir auch meinen Humor nicht nehmen lassen. Das ist meine Allzweckwaffe. Ich komme mir manchmal vor wie ein Geisterfahrer. Aber in Wahrheit sind die Demagogen, die mir da entgegenkommen, die Geisterfahrer. (lacht)
Sind die Demagogen wirklich erfolgreich oder täuscht das, weil sie so laut sind?
Teilweise sind die Demagogen nur Scheinriesen. Aber bei den schwarmdementen Spießern funktioniert das. Die merkwürdige Querdenker-Bewegung ist zum Beispiel solch ein Scheinriese. Aber man nehme sich vor ihnen in Acht! Ich will nicht sagen, dass das alles Nazis sind, aber sie machen sich mit denen gemein. Ich hatte kürzlich einen Shitstorm auf meiner Facebook-Seite. Wenn man sich mal deren Profile anschaut, kommt man aus dem Staunen nicht mehr raus. Dort sieht man Reichskriegsfahnen, teilweise aber auch ganz liebe Leute, die sich für den Tierschutz engagieren. Das Internet bietet reichlich Manipulationsmöglichkeiten. Gott sei Dank hatten die Nazis noch kein Internet!
Glauben Sie, dass Sie mit Ihren kritischen Songs etwas in den Köpfen der Menschen bewirken können?
Ich arbeite nicht für eine Zielgruppe. Mehr oder weniger lege ich mich beim Psychiater Niedecken auf die Couch und lasse es raus. Und daraus entstehen dann Songs. Was ich damit erreiche, steht auf einem ganz anderen Blatt. Das Allerliebste wäre mir, wenn man durch meine Songs angetriggert anfängt, selbst zu denken. Ich will niemanden mit Politrock bevormunden. Unsere Stammklientel sind keine Revoluzzer. Sie versuchen, sich instinktiv nach dem kategorischen Imperativ zu richten: „Was du nicht willst, das man dir tut, das füg auch keinem andern zu!"
Heute nutzen Musiker Streaming-plattformen und Online-Musikdienste, um mehr Hörer zu erreichen. Und im Musikfernsehen lässt man eigentlich nur die Vergangenheit wieder aufleben. War früher alles besser?
Wir haben zu kämpfen, dass wir von den Medien überhaupt wahrgenommen werden. Musik wird meist erst ganz spät oder auf den Kulturprogrammen gesendet, wenn die meisten schon im Bett liegen. Das war mal anders. „Things have changed" hat Dylan gesungen. Das muss man leider akzeptieren. Wenn ich meine Bücher bei Amazon bestelle, kann ich mich nicht darüber beschweren, dass der kleine Buchladen um die Ecke pleitegeht. Man muss immer erst mal vor der eigenen Haustür kehren, aber das ist gar nicht so einfach, weil man dafür manchmal einfach keine Zeit hat. Ich ärgere mich jedes Mal, dass unsere gelbe Tonne voller Plastik ist, obwohl ich versuche, das zu vermeiden. Wenn wir aus der Corona-Geschichte eine Lehre ziehen wollen, dann die, dass wir alle viel grüner denken müssen. Manch ein Beruf stünde dann wahrscheinlich infrage. Die Verpackungsindustrie muss beispielsweise endgültig auf Mehrweg umsteigen. Da geht kein Weg dran vorbei.
Wurden Sie für kritische Songs wie „Absurdistan" von 2016 belächelt, der auf die Umwelt- und Terrorkrise zielte?
„Kristallnaach" oder „Bahnhofskino" wurden nicht belächelt. Aber Stücke, die wir nicht live spielen, werden mit der Zeit vergessen. Die Leute wollen zu Recht die Stücke hören, mit denen sie aufgewachsen sind. Aber das ist wirklich ein Luxusproblem. Und ich liebe Luxusprobleme. Ich bin verblüfft, wie gut die vierte Albumauskopplung „Volle Kraft voraus" ankommt. Als ich das Lied im Februar 2019 schrieb, dachte ich nicht die Bohne an Corona. Ich habe mich wieder mal beim Psychiater Niedecken auf die Couch gelegt und alles rausgelassen. Auf einmal wird das zum Seelenproviant für viele Menschen. Ich will keine berufsjugendlichen Texte schreiben. Ich schreibe aus der Sicht eines Mannes, der auf die 70 zugeht.
Wie kam es zu dem wütenden Rocksong „Besser du jehß jetz (So What)?
Wir hatten eigentlich schon genug Songmaterial. Ausgerechnet an dem Tag, nachdem ich hier in Köln im Müngersdorfer Stadion Metallica gesehen habe, ruft mich Ulle an, um mir zu erzählen, dass er noch einen Rocker habe, den ich betexten könnte. Die zornige Metallica-Attitüde noch im Kopf habe ich mir seine Musik angehört und dachte: Das muss ein garstiger Text werden. Kennen Sie Bob Dylans „Positively 4th Street"? Darin heißt es: „Du musst Nerven haben, dich als meinen Freund zu bezeichnen". Dann habe ich mir überlegt, wer mir alles innerhalb der letzten 40 Jahre so richtig auf den Zeiger gegangen ist und daraus meinen Frankenstein konstruiert.
Immer mehr verunsicherte Menschen aus verschiedenen Milieus radikalisieren sich in der Corona-Krise. Wie könnte man diejenigen zurückholen, die diesen Staat und die Ordnung des Grundgesetzes ablehnen, ja verachten?
Man muss versuchen, sie zurückzuholen. Aber wie will man diese Leute erreichen? In einem Facebook-Post, der kürzlich einen Shitstorm ausgelöst hat, ging es mir nur darum, dass man auf unserer Seite bitte nichts posten soll, was da nicht hingehört. An dem Tag passierte das ohne Ende. Über 20-mal hat zum Beispiel ein als HNO-Arzt getarnter Scharlatan seine propagandistischen Botschaften in meine Seite hineingepflanzt. Deshalb habe ich diese Leute als Alu-Hüte, Corona-Leugner und Verschwörungstheoretiker bezeichnet. Und schließlich habe ich gewarnt, dass sie bitte darauf achten sollten, mit wem sie sich bei diesen Demos gemeinmachen. Aber das lesen die noch nicht mal. Sie finden, ich hätte sie Nazis genannt. Habe ich aber nicht, denn mit Nazis rede ich erst gar nicht.
Löschen Sie konsequent alle Einträge auf Ihrer Seite, die mit Hass und Hetze zu tun haben?
Das kann man nicht mehr ausmüllen, 40.000 Reaktionen auf meinen Post sind zu viel. Aber wir geben uns schon große Mühe, dass unsere Facebook-Seite nicht allzu sehr zugemüllt wird. Stellen Sie sich mal vor, ich würde unser neuestes Video ungefragt auf die Facebook-Seite von den Toten Hosen, Udo oder Grönemeyer posten. Was wäre das für eine Unverschämtheit! Aber diese Leute posten einfach ihre Propaganda unerlaubt auf unserer Seite und denken auch noch, sie wären im Recht.
Neil Young verlässt Facebook, weil die Plattform politische Anzeigen nicht entfernen will, die falsche Fakten enthalten. Würde es bei Ihnen auch ohne das soziale Netzwerk gehen?
Dann hätten wir noch ein Medium weniger. Im Radio und im Fernsehen kommt Musik kaum noch vor, live spielen können wir momentan auch nicht. Dann könnte ich demnächst mit einem Bauchladen von Haustür zu Haustür gehen und die Leute direkt fragen, ob sie nicht eine Platte von uns kaufen wollen.
Kennen Sie auch Musiker, die wegen der Corona-Krise Hartz IV beantragen oder den Job wechseln mussten?
Ja natürlich, ich kenne reichlich davon. Viele wissen jetzt nicht mehr, wie sie zurande kommen sollen.