Miriam Wurzer leidet unter einer besonders aggressiven Form der Multiplen Sklerose. Die letzte Hoffnung für die 32-Jährige ist eine neue sehr kostspielige Behandlung im Ausland. Eine Spendenkampagne soll dies ermöglichen.
Am Anfang dachte ich noch: Okay, das haben viele, das lässt sich mittlerweile gut behandeln", sagt Mia Wurzer. Das ist es auch, was ihr die Ärzte immer beruhigend sagen, als sie vor sechs Jahren die Diagnose bekommt. Multiple Sklerose, kurz MS ist gar nicht mehr so schlimm, viele Patienten können medikamentös gut eingestellt werden und müssen nicht zwangsläufig große Einschränkungen ihres Alltags befürchten. Die Krankheit mit den tausend Gesichtern, wie Multiple Sklerose auch genannt wird, soll ihren Schrecken verlieren. Miriam, die von allen nur Mia genannt wird, ist 25 Jahre alt, als sie die Diagnose erhält. Alles fängt mit diffusen Symptomen an, der Fuß ist taub, beim Aufstehen fällt sie deshalb hin. Ihre Augen spielen verrückt, sie sieht nicht mehr richtig. Häufig beginnt MS so, nämlich mit der Entzündung des Sehnervs. Trotzdem dauert es einige Zeit, bis andere Krankheiten ausgeschlossen sind. Vielleicht war es doch ein Zeckenbiss? Oder ein eingeklemmter Nerv? Zu dieser Zeit steht Mia voll im Leben. Sie studiert Germanistik und Anglistik, ist kurz davor, mit ihrem Partner einen längeren Auslandsaufenthalt in Irland anzutreten. Das Jahr in Irland muss sie verschieben, der Freund fährt allein und die Beziehung zerbricht. Mia kommentiert ihre Krankheit oft mit trockenem Humor. Mittlerweile ist sie auf einen Rollstuhl angewiesen. „Komm vorbei, wann du willst", sagt sie bei der Terminvereinbarung. „Ich laufe nicht weg." Doch später sagt sie auch: „Es ist schon großer Mist, machen wir uns nichts vor."
Multiple Sklerose ist eine Autoimmunerkrankung. Das Immunsystem sieht den eigenen Körper als Feind, den es bekämpfen muss. Was im Fall von Infektionen von außen zwar sinnvoll ist, hat fatale Folgen, wenn der Körper sich systematisch selbst kaputtmacht. Die MS zerstört die Myelinscheiden im zentralen Nervensystem, die die Nerven wie eine schützende Hülle umgeben. Lähmungen, Schmerzen, Spastiken, Schwindel, Sprachstörungen sind nur einige der Folgen. Da MS das Gehirn und das Rückenmark schädigt, und damit die Schaltzentralen für den ganzen Körper, sind die Auswirkungen unter Umständen groß. Eine Lähmung kann jedes Körperteil treffen. Die Krankheit mit den tausend Gesichtern eben.
Mit den Augen fing es an – sie konnte nicht mehr richtig sehen
MS verläuft oft in Schüben, es kann sein, dass eine Zeit lang alles gut läuft, bis es wieder so weit ist. Um Schübe zu verhindern, gibt es verschiedene Medikamente, die lebenslang eingenommen werden müssen. Tritt doch ein Schub auf, reagiert der Körper mit einer Entzündung, die die Symptome teils drastisch verschlimmert oder neue auftreten lässt. In diesen Fällen wird meist Cortison in hohen Dosen gegeben. Das hilft zwar gegen die Entzündung, ist aber auch ein Stresshormon, das den Körper auf den Kopf stellt. Wasser lagert sich ein, tagelange Schlaflosigkeit und ein permanentes Stressgefühl sind die Folgen, die Mia beschreibt. Nach einer Cortison-Therapie folgt das Tief, der Körper ist auf Entzug. All das hat sie schon oft mitgemacht. Das Schicksal teilt sie mit anderen MS-Patienten, doch bei ihr nimmt die Krankheit zusätzlich einen anderen Verlauf. Während sich bei vielen nach einem Schub die Symptome wieder ganz oder teilweise zurückbilden, wird es bei ihr nicht besser, sondern kontinuierlich schlimmer. Die Ärzte schließen daher nicht aus, dass Mias MS sich mittlerweile zur progredienten Variante, also einer sich schleichend verschlechternden Form entwickelt hat, die sich medikamentös nur noch bedingt behandeln lässt.
Am Anfang der Krankheit ist noch alles machbar. Den Auslandsaufenthalt in Irland holt sie damals nach, macht auch ihren Uniabschluss erfolgreich. Im Laufe der Zeit aber fällt das Gehen schwerer, auch Sehen und Greifen funktionieren nicht mehr so gut. Die Krankheit bestimmt in den Jahren nach der Diagnose ihr Leben immer mehr. Mia ist es gewohnt, in Bewegung zu sein, unter Menschen zu sein, kreativ zu sein, zu kochen, auf Konzerte zu gehen. Das alles genießt sie mit Ende 20, wie es viele junge Menschen ganz selbstverständlich tun. Sie kellnert neben dem Studium in verschiedenen Bars. Sie wird für Modenschauen gebucht, macht Fotoshootings.
„Leider habe ich gerade keine 50.000 Euro auf der hohen Kante"
Doch vor allem hängt ihr Herz schon seit sie Kind ist an einer Sache: dem Reiten. Eine Pferderasse hat es ihr angetan, nämlich die Isländer. „Das sind kernige Outdoor-Pferde mit einem tollen Charakter", sagt sie. Mit ihrem Pferd Saelingur hat sie früher nicht nur an Turnieren teilgenommen, sondern auch schon mal den Sankt Martin gegeben. Heute, mit 32, geht von alledem kaum noch etwas. Mia kann nur noch wenige Schritte ohne Rollstuhl machen, ihr Leben ist stark eingeschränkt, und es könnte jeden Tag schlimmer werden. Aber aufgeben will sie nicht. Sie erinnert sich, wie sie nächtelang nach Behandlungsmöglichkeiten gesucht hat. Im Internet findet sie eine vielversprechende Methode. Was als ähnliches Prinzip bei Leukämie bekannt ist, gibt es auch für MS-Patienten. Es handelt sich um eine Chemotherapie, mit der das fehlgeleitete Immunsystem erst heruntergefahren und später durch eine Therapie mit eigenen Stammzellen wieder neu gestartet wird. Die Methode war bei Patienten weltweit bereits erfolgreich. Auch in Deutschland wurde sie bis vor einigen Jahren in Kliniken in Hamburg oder Heidelberg durchgeführt. Doch die kostspielige Behandlung wird dort aktuell nicht mehr angeboten und auch von den Krankenkassen nicht bezahlt. Mia macht sich schlau und findet heraus, dass diese aHSCT-Methode in Spezialkliniken in London und Moskau praktiziert wird. „Das sehe ich als meine letzte Chance", sagt sie. Doch die Freude bekommt einen Dämpfer. Die teure Behandlung muss privat gezahlt werden und ist damit für viele unerreichbar. Mia bewirbt sich trotzdem und bekommt einen Platz in Moskau. „Leider habe ich gerade keine 50.000 Euro auf der hohen Kante", sagt sie. Erst will sie nicht, doch Freunde überzeugen sie, mit dieser Problematik an die Öffentlichkeit zu gehen. Sie richten eine Homepage für Mia ein und starten die Spendenkampagne „Mia reicht’s – Gemeinsam gegen MS", damit sie die Reise antreten kann. „Wir wollten ihr etwas zurückgeben", sagt ihre Freundin Meike. „Das ist eigentlich gar nicht meine Art", sagt Mia. Aber es ist auch ein kleiner Hoffnungsschimmer im Kampf gegen die Krankheit mit den tausend Gesichtern.