Von einem reibungslosen Impfstart war niemand ausgegangen. Tatsächlich war es mehr als nur „rumpelig" (Jens Spahn). Trotzdem bleibt die Hoffnung auf Impfungen – samt neuer Fragen nach dem Rumpelstart.
Die ersten Impfdosen waren kaum verteilt, da zeigte sich Jens Spahn „verhalten optimistisch". Vorsorglich ergänzte der Bundesgesundheitsminister den bundesweit angelaufenen Impfstart mit einem Warnhinweis: „Es wird noch rumpelig". Es brauchte gerade mal 24 Stunden, bis klar war, dass Spahns Warnung nicht nur klug, sondern auch sehr berechtigt war.
Diesmal war Berlin Vorreiter bei der ersten Ernüchterungswelle nach den hoffnungsfrohen Erwartungen. Das einzige von insgesamt acht am Sonntag nach Weihnachten überhaupt eröffnete Impfzentrum in der Hauptstadt schloss einen Tag vor Silvester gleich wieder seine Pforten. Berlins Gesundheitssenatorin Dilek Kalayci (SPD) musste einräumen, dass neben dem wenig gelieferten Impfstoff auch die Impf-Nachfrage so gering war, dass sich der Senat entschlossen hatte, die Mitarbeiter lieber auf die mobilen Impfbusse zu verteilen.
Wenig später ging dann auch noch der Impfstoff aus. Berlin, Brandenburg und Bayern konnten so überhaupt nichts mehr machen. Aber auch in den übrigen Bundesländern kam die groß angelegte Impfkampagne zum Erliegen.
Was in Krisen typisch ist, gilt auch für die Zeiten der Pandemie: Ein Politiker kann schnell zum hochgelobten Held werden, läuft dann aber etwas nicht, kann dieser Held noch viel schneller von seinem Sockel kippen. Das Schicksal könnte jetzt auch Bundesgesundheitsminister Jens Spahn erleiden. Deutschlands noch zweitbeliebtester Politiker gerät zunehmend in die Kritik.
Und das nicht von den Seiten, von denen es erwartbar ist. Nicht nur die Opposition kübelt ihren Hohn und Spott über den 40-jährigen CDU-Politiker für den vermasselten Impfstart aus, sondern auch die Bundestagskollegen von der mitregierenden SPD.
Den Aufschlag dazu machte der politische Stratege der Sozialdemokraten, Generalsekretär Lars Klingbeil. „Wir sehen in diesen Tagen, dass es chaotische Zustände gibt" und die Schuld daran trage Jens Spahn, so Lars Klingbeil. Der SPD-Generalsekretär forderte nun die Kanzlerin auf, sie müsse jetzt die Führung für eine „nationale Kraftanstrengung" übernehmen.
Im Kanzleramt zeigte man sich etwas überrascht über den frühen Wahlkampfauftakt der SPD und fragte spitz zurück, ob jetzt die Kanzlerin den Impfstoff persönlich bestellen soll.
Was den Stab um Spahn im Bundesgesundheitsministerium besonders ärgerte, war, dass SPD-Gesundheitsexperte Lauterbach noch mal nachlegte und sich öffentlich darüber mokierte, dass nicht mehr Impfstoff bestellt wurde. Das Ganze wurde dann noch von der Stiftung Patientenschutz flankiert, die auch Spahn in der Pflicht sah. Der Minister müsse jetzt handeln und Impfstoff bestellen, so viel wie geht.
Dabei ist bekannt, dass sich die EU – ausnahmsweise in großer Einigkeit – darauf verständigt hatte, dass eben nicht ein Mitgliedsstaat den europäischen Impfstoff-Markt leer kauft. Bundesgesundheitsminister Spahn hatte lange mit seinen Amtskollegen aus den übrigen 26 EU-Staaten gerungen, dass der Impfstoff gemeinsam beschafft und dann auf alle Länder gerecht verteilt wird. So wurde verhindert, dass die reichen Staaten den ganzen Impfstoff horten und für die ärmeren EU-Staaten dann nichts mehr übrig bleibt. Gleichzeitig sollte das Risiko gestreut werden, indem mit den unterschiedlichen Anbietern Verträge geschlossen wurden. Dass nicht alle Entwicklungen gleichzeitig zugelassen und lieferbar sein würden, war vorauszusehen.
Weiteren Ärger gab und wird es auch in den kommenden Wochen bei der Priorisierung der zu Impfenden geben. Aufgrund der gemeinsamen Empfehlung von Ethikrat, Leopoldina und Impfkommission sind zunächst vor allem die über 80-Jährigen und Gesundheitspersonal dran. Dabei war bei der Verständigung darüber bereits im Dezember klar, dass die erwartete erste Tranche von 1,3 Millionen Impfdosen bis Mitte Januar nicht für alle aus dieser insgesamt zahlreichen Gruppe reichen würde.
Mit den Bildern vom internationalen Impfstart fragten sofort öffentlich verschiedene Interessenverbände, ob es nicht sinnvoller wäre, anstelle von 101-Jährigen lieber Pfleger, Krankenschwestern, Ärzte, Polizisten oder Feuerwehrleute zuerst zu impfen. Dass derartige Diskussionen auf die Gesellschaft zukommen würden, war im Grunde aber schon im Herbst letzten Jahres abzusehen, und eigentlich hätte die auch früh im Parlament geführt werden müssen.
Stattdessen waren die immer gleichen Bilder und vergleichbare Meldungslagen Begleiter der Entwicklung. Kanzleramt und Ministerpräsidenten versuchen auszuloten, was bundeseinheitlich möglich ist und was nicht. Zumindest tun sie das, nachdem die ständigen Landesregelungen für zunehmend Unmut und Druck gesorgt hatten. Dieses permanente Ringen um angemessene Reaktionen auf die Entwicklungen im 14-Tage-Rhythmus überlagerte die öffentlichen Diskussionen. Die wöchentliche Verunsicherung darüber, was noch geht oder was nicht, ließ Debatten über so grundlegende und im jeweiligen Moment nicht aktuell erscheinenden Fragen wie eben der Priorisierung keinen Raum. Das gilt auch für die Beschäftigung des Parlaments, das erst um eine angemessene Beteiligung kämpfen musste, was schließlich über einen Zusatz beim Infektionsschutzgesetz erfolgte.
Impfbereitschaft hat gelitten
Ausgerechnet der jetzt so kritisierte Gesundheitsminister Spahn hatte schon im Sommer auf die ethischen Probleme hingewiesen. Neben der Fragen, die sich um Priorisierung und damit vor allem Impfwillige drehen, kommt die ethische Frage, wie man mit Menschen umgeht, die sich nicht impfen lassen wollen. Dürfen diese vom Sport, von Flugreisen, Bahnfahrten oder Shoppingmalls ausgeschlossen werden? Droht im Sommer eine Zweiklassen-Gesellschaft: Mit Corona-Impfpass ins Schwimmbad, ohne Impfpass in den Tümpel im Park?
Die Frage steht spätestens im Raum, seitdem die Australische Fluggesellschaft Qantas angekündigt hat, auf den Interkontinentalflügen eine Impfpflicht einzuführen. Aus Sicht der Airline wirtschaftlich absolut vernünftig. Mit einer nur zu einem Drittel gefüllten Maschine braucht keine Fluggesellschaft der Welt zu starten. In der Luftfahrt gilt als Faustformel für Wirtschaftlichkeit eine mindestens 80-Prozent-Auslastung. Das gilt auch für Deutsche Fluggesellschaften.
Und es gilt auch in kleinerem Rahmen. Auch für Restaurants, Bars, Kinos, Saunen oder Sportstudios macht es keinen Sinn, die Location auf Sparflamme laufen zulassen, wenn man mit Corona-Impfpass-Gästen wieder ein volles Haus haben könnte.
Von Bundeskanzlerin über Minister Spahn bis zu den Ministerpräsidenten wird immer wieder beteuert, es werde keine Impfpflicht geben. Die Frage ist aber ungeklärt, ob es eine indirekte Verpflichtung geben würde, wenn Zutritte von einer Impfung abhängig gemacht würden. Nicht umsonst hat zwischen den Jahren eine Diskussion eingesetzt, ob es nicht eine gesetzliche Klarstellung gegen solche Formen von Diskriminierungen geben müsse. In Sachen Corona- Ethik scheint Deutschland oftmals wie eine verspätete Republik.
Dass solche Debatten und der technisch-organisatorisch vielfach verkorkste Impfstart an den Nerven zehren, ist wenig verwunderlich. Problematisch wird es, wenn das weiter an der ohnehin schon gesunkenen Impfbereitschaft nagen würde.
Laut Deutschlandtrend Ende Dezember ist die Stimmung pro Impfen gekippt, aus mehr als 60 Prozent Corona-Impfwilligen im Herbst ist nur noch eine rund 50-Prozent-Bereitschaft geworden. Die sogenannte Herdenimmunität, bei der das Virus beherrschbar wäre, wird allgemein bei etwa 60 bis 70 Prozent angenommen.