Talent hatte Skirennläufer Linus Straßer schon immer, doch die Nerven spielten ihm im Wettkampf oft einen Streich. Bei den Alpinen Ski-Weltmeisterschaften geht er aber als Medaillenkandidat an den Start.
Der Corona-Winter setzt dem Alpinen Ski-Zirkus schwer zu, doch Linus Straßer ist meistens bester Laune. Der 28-Jährige hat auch allen Grund zur Freude, ihm gelang in dieser Saison der Durchbruch, an den vielleicht nicht mal er selbst noch geglaubt hatte. Straßer galt jahrelang als Trainings-Weltmeister, dem im Wettbewerb regelmäßig die Nerven versagen. Pech mit dem Wetter oder Stürzen kam oft auch noch dazu. „Das hat mir null Spaß gemacht, und ich hatte keine Lust mehr, so weiterzumachen", berichtete der Slalomfahrer kürzlich über seine Rücktrittsgedanken, die noch gar nicht so lange her sind. Nach der miserablen Saison vor drei Jahren schloss er aber mit sich selbst einen Pakt: Sollte er es in den Rennen nicht schaffen, „dass ich diesen Mut und diesen Willen aufbringe, den Schweinehund zu überwinden, dann lasse ich es sein", erzählte er. „Ich hätte kein Problem damit gehabt, die Ski an den Nagel zu hängen."
Zusammen mit Techniktrainer Bernd Brunner änderte Straßer seine Herangehensweise. Dabei konzentrierte er sich nur noch auf sich, nicht mehr auf die Gegner und schon gar nicht auf Felix Neureuther, dem er jahrelang nachgeeifert hatte. Ganz bei sich, stellt sich in diesem Winter endlich der Erfolg ein: Überraschungssieg auf dem „Bärenberg" im kroatischen Zagreb, und eine sensationelle Aufholjagd in Adelboden auf dem legendären Chuenisbärgli vom zwölften auf den zweiten Platz. Der deutsche Alpinchef Wolfgang Maier schwärmt von „absoluten Weltklasse-Ergebnissen", Straßer habe endlich sein persönliches Erfolgsrezept gefunden: „Es passt gerade einfach." Der Athlet selbst spürt Rückendwind, sein Coup von Zagreb „macht was mit einem", wie er selbst sagt. Dieses gestiegene Selbstvertrauen wolle er „in die richtige Richtung lenken". Der Münchner will unbedingt vorne dranbleiben und die Erfolgswelle mitnehmen: „Der Prozess geht noch weiter. Es liegen noch einige Aufgaben vor mir."
WM in Cortina d’ampezzo vom 8. bis 21. Februar
Die Alpinen Ski-Weltmeisterschaften in Cortina d’Ampezzo (vom 8. bis zum 21. Februar) zum Beispiel, bei der Straßer als aussichtsreichster Fahrer des Deutschen Ski-Verbandes (DSV) an den Start geht. Sofern die Titelkämpfe denn stattfinden. Das Coronavirus hat auch den Ski-Zirkus mehr und mehr im Griff. Die traditionsreichen Lauberhorn-Rennen in Wengen waren aufgrund von zu hohen Infektionszahlen abgesagt worden. Kitzbühel sprang kurzfristig als Veranstalter ein, doch auch hier konnten die geplanten zwei Slaloms nicht ausgetragen werden. Der Grund: Im Nachbarort Jochberg wurden 17 positive Fälle notiert, die auf die britische Corona-Mutation zurückgeführt werden. Dass auch die nochmals gestiegenen Sicherheitsvorkehrungen keine Garantie für eine corona-freie Ski-Blase sind, zeigte der positive Test von Markus Waldner, dem Renndirektor der Alpinen Ski-Herren. Bleiben Corona-Fälle weitestgehend aus, soll die WM in Cortina d’Ampezzo aber unbedingt wie geplant stattfinden. Es steht zu viel auf dem Spiel. Die italienischen Organisatoren hatten den Weltverband FIS Ende Mai eigentlich um eine Verlegung der WM ins Olympia-Jahr 2022 gebeten, weil die Region damals sehr stark vom Virus befallen war. Doch darauf ließ sich die FIS nicht ein, auch zahlreiche Athleten hatten sich wegen der Doppelbelastung WM/Olympia gegen eine Verlegung ausgesprochen.
Für Straßer kommt die WM zum richtigen Zeitpunkt. In Flachau, dem vorletzten Slalom-Wettbewerb vor den Titelkämpfen, schied er nach Platz fünf am Vortag zwar im zweiten Rennen nach einem Einfädler aus. Doch Sorgen bereitete ihm das nicht. Der 28-Jährige hatte mit Blick auf die WM etwas ausprobiert, „ich habe versucht, mehr Gas zu geben". Das Timing passte nicht ganz, dramatisch sei das aber nicht. Es sei sogar ganz gut, dass er bis zum Saison-Höhepunkt im vorolympischen Winter „ein bisschen Luft" nach oben habe. Bis dahin wolle er „gut trainieren", sich „ausruhen", und dann, verspricht Straßer, „dann greife ich wieder an".
Der gestiegene Druck könnte zum Problem werden
Automatisch eine Medaille könne man vom einstigen Sorgenkind aber nicht erwarten, meint Christian Schwaiger. Der Bundestrainer dämpft ein wenig die Euphorie um Straßer: „Man darf nicht in Hysterie verfallen und glauben, es geht immer so weiter." Der gestiegene Druck könnte zum Problem für seinen Schützling werden. „Er muss versuchen, relaxt zu bleiben und gut Ski zu fahren", sagt Schwaiger, „dann erledigen sich die Dinge von allein." Sollte Straßer dies gelingen, ist er definitiv ein Kandidat für die Podestplätze. Schon jetzt kann der Skifahrer, dessen Verein TSV 1860 München eher im Fußball verortet ist, mit dem Saisonverlauf mehr als zufrieden sein. Der Schritt vom ewigen Talent zum potenziellen Siegfahrer ist ihm gelungen, seit seinem Weltcup-Debüt 2013 hat er darauf gewartet. Nachdem ihm in der Saisonvorbereitung eine entzündete Quadrizeps-Sehne ausgebremst hatte, waren die Erwartungen nicht besonders groß. Doch vielleicht gelang ihm gerade deswegen der Durchbruch.
Sportlich gibt es ohnehin keine Zweifel an Straßers Klasse. Der Bayer ist ein Instinktfahrer, der über herausragende Grundlagen verfügt. Das macht ihn vor allem bei schwierigen Wetter- und Bodenverhältnissen zu einem gefährlichen Konkurrenten für die Topstars um die Österreicher Marco Schwarz und Manuel Feller. „Er ist in einer Topform. Er fährt stabil und sehr sauber. Er hat sich enorm entwickelt", lobt auch ARD-Experte Felix Neureuther. Das frühere Slalom-Ass ist ein Idol von Straßer, auch er hatte im Alter von 28 Jahren seinen späten Durchbruch mit WM-Silber in Schladming. Neureuther kann gut nachvollziehen, welchen Stellenwert Straßers überraschender Weltcupsieg in Zagreb hatte – für den Athleten, aber auch für das gesamte deutsche Team. „Es ist schon wichtig, dass dieser Sieg gekommen ist", sagt Neureuther, „damit der öffentliche Gedanke aufhört, wann endlich der Thomas wieder zurückkommt."
„Der Thomas" – damit ist Thomas Dreßen gemeint. Der beste deutsche Abfahrer tastet sich nach einer Hüft-Operation im November langsam wieder heran – immer in der Hoffnung, doch noch bei der WM zu starten. „Klar ist die WM ein Thema, eine WM ist immer Thema", sagte der Sieger des Hahnenkamm-Rennens in Kitzbühel 2018. In Topform wäre Dreßen bei den Weltmeisterschaften sogar ein Goldkandidat für den Super-G und die Abfahrt, doch die Zeit dafür dürfte knapp werden. Der 27-Jährige fühle sich nach der schweren Operation zwar „schmerzfrei", mit der Reha sei er „sehr zufrieden", doch bis Mitte Januar konnte er lediglich Langlaufen und eine Skitour bergauf absolvieren. Übers Knie brechen wollte Dreßen einen WM-Start auf keinen Fall, dafür ist sein Traum von einer Olympia-Medaille im kommenden Winter in Peking zu groß. „Ich muss nicht auf Teufel komm raus bei der WM dabei sein, da zählt das Langfristige mehr", sagte Dreßen. Er müsse „zu hundert Prozent sicher sein", dass er sich die Belastung einer Abfahrt zutraue. Ansonsten sei er auch mental nicht fit für die Titelkämpfe.
In Topform wäre Dreeßen ein Goldkandidat
Ebenfalls um seine WM-Chance bangte Stefan Luitz. Der 28 Jahre alte Riesenslalom-Spezialist war bei einem Trainingssturz in Österreich mit dem Ski im Sicherheitsnetz hängen geblieben. Eine Verletzung im linken Oberschenkel zwang ihn danach wochenlang zum Zuschauen. Hoffnung für Luitz: Die technischen Disziplinen stehen bei der WM erst in der zweiten Woche auf dem Programm. Wohl mit dabei ist Kira Weidle, doch auch die Abfahrt-Spezialistin, die im französischen Val d’Isère einen starken fünften Platz erreicht hatte, ist nach einem Trainingssturz gehandicapt. Ein Bänderriss im linken Daumengrundgelenk musste zur Weihnachtszeit operativ behandelt werden, seitdem ist Weidle auf der Suche nach der verlorenen Leichtigkeit.
Das Sturzpech traf in diesem Winter aber nicht nur das deutsche Team, nationenübergreifend wurden wieder verstärkt Stürze vermeldet. Für den norwegischen Ski-Star Aleksander Aamodt Kilde zum Beispiel ist die Saison nach einem Kreuzbandriss frühzeitig beendet. Sein Landsmann Henrik Kristoffersen zettelte nach den schweren Stürzen seiner beiden Teamkollegen Lucas Braathen und Atle Lie McGrath beim Riesenslalom in Adelboden eine Debatte über die seiner Meinung nach gefährliche Entwicklung im Alpinen Ski-Rennsport an. Kristoffersen nannte die Stürze „eine Schande", weil das Tempo im Zielbereich gemessen an den Bedingungen viel zu hoch gewesen sei. „Wenn der Schnee so aggressiv ist, wird er lebensbedrohlich", mahnte der Riesenslalom-Weltcupsieger der Vorsaison. Die Veranstalter würden bei den Streckenprofilen generell ein zu hohes
Risiko gehen.