Bei Beschaffung, Zeitplan und Digitalisierung ist das Land Vorreiter
Verkehrte Welt im internationalen Corona-Vergleich: Die Länder, in denen das Virus lange Zeit heruntergeredet und verharmlost wurde, entwickeln nun ein enormes Impf-Tempo. In den USA, die die höchsten Zahlen bei Infektionen und Covid-19-Toten aufweisen, wurden bis dato 7,6 Prozent der Bevölkerung geimpft. Das Vereinigte Königreich kommt auf 13,7 Prozent, Israel auf 35,6 Prozent – und Deutschland gerade mal auf 2,3 Prozent. Alle drei Länder, die den Takt jetzt vorgeben, haben sich relativ früh große Mengen an Impfstoff beschafft.
Amerikas neuer Präsident Joe Biden versucht mit seinem ehrgeizigen Ziel, 100 Millionen Menschen in 100 Tagen impfen zu lassen, die Versäumnisse seines Vorgängers Donald Trump auszubügeln. Der britische Premierminister Boris Johnson will mit Express-Impfungen seinen verheerenden Laisser-faire-Kurs zu Beginn der Pandemie kompensieren. Das Gleiche gilt für Israels Regierungschef Benjamin Netanjahu, der nach einem strengen Lockdown im Frühjahr viel zu schnell gelockert hat. In allen Fällen mag Aktionismus mitschwingen. Es steckt aber auch entschlossene Schadensbegrenzung dahinter.
Dabei lohnt ein Blick auf das israelische Beispiel. Das Land am östlichen Mittelmeer setzte am Anfang –
wie auch die EU – auf mehrere Impfstoff-Hersteller. Als das Tandem Biontech/Pfizer im Herbst mit der Meldung herauskam, dass das eigene Präparat zu mindestens 90 Prozent wirksam sei, griff die Regierung in Jerusalem beherzt zu. Nach Medienberichten blätterte sie pro Impfdosis 23 Euro hin, fast doppelt so viel wie die EU-Staaten. Weiteres Zugeständnis an die Unternehmen: Sie müssen mit keinen Sanktionen rechnen, wenn sie eine Lieferzusage nicht einhalten.
Israel schaute nicht auf den Preis. Die Pandemie wurde als nationaler Notstand definiert, der die hohe Impf-Geschwindigkeit diktierte. Die EU im Verbund mit den nationalen Regierungen erwies sich dagegen als kompliziertes Räderwerk mit quälend langen Abstimmungsprozessen. Was normalerweise eine richtige Überlegung ist – 27 Staaten können aufgrund ihrer Marktmacht den Preis drücken –, stellte sich in Corona-Zeiten als falscher Absatz heraus. Die Gemeinschaft hatte sich auf einen gigantischen Rettungsfonds von 750 Milliarden Euro geeinigt. Sie hätte einen Bruchteil dieser Summe in die Hand nehmen und eine viel größere Menge an Impfstoff einkaufen sollen. Dann müsste Brüssel jetzt nicht mit dem Finger auf andere zeigen.
Ein weiterer Vorteil Israels: Das Gesundheitswesen ist in hohem Maße durchdigitalisiert. Die neuesten Infektionszahlen werden sofort online erfasst und zentral ausgewertet. In Deutschland müssen die Gesundheitsämter am Wochenende die Daten an das Robert-Koch-Institut in Berlin faxen, sofern sie das überhaupt tun. Das hat den antiquierten Charme des Postkutschenzeitalters. Einer Industrie- und Technologiegroßmacht ist es jedenfalls nicht würdig.
Natürlich darf man ein Land wie das rund neun Millionen Einwohner zählende Israel nur bedingt mit Deutschland vergleichen, wo mehr als 80 Millionen Menschen leben. Zudem ist Israel viel mehr urbanisiert als das zersiedelte Deutschland. All dies sind strukturelle Vorteile.Selbstverständlich ist Israels Premier Netanjahu nicht das große Impf-Genie. Der politische Überlebenskünstler, der mehrere Korruptionsverfahren am Hals hat, hegt auch taktische Motive. Er muss sich im März Parlamentswahlen stellen und will sich als zupackender Krisenmanager verkaufen. Pünktlich zum Wahltermin soll die gesamte Bevölkerung durchgeimpft sein.
Israels Impf-Turbo kann in Europa kurzfristig nicht einfach kopiert werden. Dafür ist es jetzt zu spät. Die weltweite Nachfrage nach dem Vakzin ist viel höher als die Produktionskapazitäten. Auch der Impf-Gipfel zwischen Bundeskanzlerin, Ministerpräsidenten und Pharmaindustrie am Montag konnte hier keine Abhilfe schaffen. Erst für das zweite Quartal ist Entspannung in Sicht.
Dennoch sollte man sich das israelische Beispiel in Berlin und Brüssel zu Herzen nehmen. Als mittelfristige Zielvorgabe. Der rechtzeitige Erwerb von Impfstoffen – wobei die Kostenfrage zweitrangig ist – und die Digitalisierung des medizinischen Betriebs sind erstrebenswert. Denn Corona wird kein Einzelfall bleiben. Die nächste Pandemie kommt bestimmt.