Der Vorstoß des Kanzleramtsministers Helge Braun zur Lockerung der Schuldenbremse stößt auf breite Skepsis, nur bei den Grünen herrscht große Zustimmung.
Es war wohl als eine Art Testballon gedacht. Helge Braun, Merkels Kanzleramtsminister und ihr engster politischer Vertrauter im Kabinett, ist seit einem Jahr vor allem als Corona-Erklärer in abendlichen Talkshows bekannt. Dort vertritt er dann meist geduldig die Position der Kanzlerin in der Pandemie und fordert schärfere Lockdown-Regeln, als es die Ministerpräsidenten gerade beschlossen haben.
Daher war der aktuelle Vorstoß eine echte Überraschung. In einem Gastbeitrag für das „Handelsblatt" forderte der Kanzleramtschef eine Lockerung der Schuldenbremse, wie sie seit zehn Jahren im Grundgesetz steht. Sie solle nicht sofort, sondern erst nach einer Übergangszeit von ein paar Jahren wieder eingehalten werden. Zwar erlaubt das Grundgesetz in weiser Voraussicht, das Verschuldungsverbot in Notfällen ausnahmsweise auszusetzen. So heißt es wörtlich im Artikel 115: „Im Falle von Naturkatastrophen oder außergewöhnlichen Notsituationen, die sich der Kontrolle des Staates entziehen und die staatliche Finanzlage erheblich beeinträchtigen, können diese Kreditobergrenzen aufgrund eines Beschlusses der Mehrheit der Mitglieder des Bundestages überschritten werden." Ansonsten müssen die Ausgaben durch die Einnahmen gedeckt sein, wobei man das nicht ganz strikt sieht, sondern immerhin eine Kreditfinanzierung in Höhe von 0,35 Prozent des Bruttoinlandsprodukts erlaubt. So kam der Bund auch tatsächlich in den vergangenen Jahren bis 2019 ohne neue Schulden aus. Die „schwarze Null" wurde Kult.
Die „Schwarze Null" wurde Kult – bis Corona kam
Doch dann kam Corona. Wegen der Ausnahmeregel war es dann auch kein Problem, dass der Bund im vergangenen Jahr neue Schulden in Höhe von 130 Milliarden Euro aufnahm, um all die Hilfsprogramme, Steuerausfälle und Überbrückungshilfen zu finanzieren. Für das laufende Jahr hat sich die Bundesregierung vom Bundestag sogar 180 Milliarden genehmigen lassen, was dieser – unter Murren aus der Unionsfraktion – tat.
Doch nun will Helge Braun mehr, und es ist kaum vorstellbar, dass er den Gedanken ohne die Zustimmung oder gar Anregung von Kanzlerin Angela Merkel äußerte. Offensichtlich ist den Ökonomen im Kanzleramt klar, dass der wirtschaftliche Weg aus der Pandemie steiniger sein wird, als noch im Herbst gedacht.
Als Bundeswirtschaftsminister Peter Altmaier (CDU) vergangene Woche seinen Jahreswirtschaftsbericht vorstellte, erklärte er zwar optimistisch, was die Regierung alles tut, um das Wachstum zu stützen: Hilfen, Digitalisierung und so weiter. Dennoch musste er zugeben, dass die Wirtschaft nur mit drei Prozent zulegen dürfte, schwächer als zuvor erwartet. Die fünf Prozent Minus des vergangenen Jahres werden damit also nicht aufgeholt. Frühestens Mitte 2022 dürfte die Wirtschaftsleistung wieder das Vorkrisenniveau erreichen. Es dauert also alles länger, als am Anfang befürchtet. Eigentlich wollte Finanzminister Olaf Scholz (SPD) im kommenden Jahr die Schuldenbremse wieder einhalten. Die schwächere Konjunktur bedeutet aber nun, dass der Staat wohl auch im kommenden Jahr neue Schulden machen muss, wenn er nicht durch Steuererhöhungen die Unternehmer vergrätzen will.
Genau das sehen Helge Braun und seine Experten im Kanzleramt: Die Schuldenbremse sei „auch bei ansonsten strenger Ausgabendisziplin nicht einzuhalten", schrieb er. Und die Ausnahme solle man in den kommenden Jahren nicht mehr nutzen. Ansonsten werde das ein „Tor zur dauerhaften Aufweichung der Schuldenregel" öffnen. Tatsächlich dürfte es verfassungsrechtlich kaum möglich sein, sich jahrelang auf die Corona-Pandemie zu berufen. Darum also der rechtzeitige Versuch, eine Debatte anzustoßen. Das ist gelungen, aber wohl nicht ganz so, wie vom Kanzleramt erhofft. Denn der heftigste Protest kam vonseiten der Parteifreunde aus der Unionsfraktion im Bundestag.
Für deren Chef Ralph Brinkhaus war Brauns Vorstoß eine „persönliche Meinungsäußerung" des Kanzleramtsministers (was man so wohl nicht sagen kann), und „keine mehrheitsfähige Position in der CDU/CSU-Bundestagsfraktion" – was sicher mehr zutrifft. Johannes Steiniger, für die CDU-Fraktion im Bundestagsfinanzausschuss, sagte: „Die Schuldenbremse ermöglicht uns eine langfristige Perspektive für die Staatsfinanzen, die wir jetzt dringend brauchen. Statt eine Debatte über die Aussetzung der Schuldenbremse zu führen, brauchen wir eine kritische Auseinandersetzung über die Staatsausgaben. Zudem müssen wir das finanzielle Gleichgewicht zwischen Bund und Ländern wiederherstellen."
Die klarste Ablehnung der Aufweichungsidee kam indessen von der FDP: „Die Schuldenlust von CDU, CSU, Grünen, SPD und Linken ist Ausdruck eines Generationenegoismus. Sie können es sich schlicht nicht vorstellen, dass kommende Generationen vor größeren Herausforderungen stehen und die Mittel nötiger brauchen als wir heute", twitterte ihr Generalsekretär Volker Wissing.
Überall in Europa mehr Investitionen
So ergibt sich nun die spannende Situation, dass das Kanzleramt von den Grünen Begeisterung erntet, während sonst eher Skepsis oder Ablehnung herrscht. Während die SPD tatsächlich etwas sprachlos war, nutzten die Grünen die Vorlage Brauns offensiv, um in aller Offenheit mit der Möglichkeit eines schwarz-grünen Bündnisses nach den Wahlen zu spielen. Seit Wochen fordert Co-Parteichef Robert Habeck, der von manchen schon als künftiger Finanzminister gehandelt wird, eine Lockerung der Schuldenbremse: „Gut, dass das Kanzleramt und Helge Braun den Mut finden, die Wahrheit auszusprechen: Die Schuldenbremse ist so künftig nicht mehr einzuhalten." In einer Talkshow ergänzte er, das zeige dass im Kanzleramt nun der Realismus herrsche, im Gegensatz zur CDU-Fraktion im Bundestag. Seit Jahren fordern die Grünen eine Reform der Schuldenbremse, vor allem, um mehr Geld für Investitionen in Infrastruktur und Bildung zu haben.
Noch größer ist der Jubel bei Sven Giegold, dem finanzpolitischem Sprecher der Grünen im Europäischen Parlament. Er geht noch weiter: „Endlich erwächst in der CDU die Einsicht, dass man nicht in eine Krise hineinsparen sollte. Wir belasten zukünftige Generationen umso mehr, wenn wir dringend notwendige Zukunftsinvestitionen nicht tätigen." Europapolitiker Giegold will nun auch die europäischen Schuldenregeln aufweichen. „Die bisherigen Regeln behindern notwendige Investitionen in Ländern, die noch stärker als Deutschland von der Krise betroffen sind." Überall in Europa müsste mehr investiert werden, um die Wirtschaft zukunftsfest zu machen.
Die neue schwarz-grüne Nähe zeigt: Der Streit um die Schuldenbremse könnte die entscheidende wirtschaftspolitische Frage des Wahlkampfes werden.