Welche Auswirkungen haben die Kontaktbeschränkungen auf das Bewegungsverhalten von Jugendlichen? Und wie sieht es mit dem psychischen Wohlbefinden aus? Über diese Fragen und viele mehr hat FORUM mit Dr. Matthias Marckhoff gesprochen.
Herr Dr. Marckhoff, Sie haben zusammen mit Dr. Manuel Föcker am Universitätsklinikum Münster die Auswirkungen der Kontaktbeschränkungen auf das Bewegungsverhalten von Jugendlichen untersucht. Wie wurde Ihre Studie umgesetzt?
Von März bis April 2020, in der Phase des ersten Shutdowns in Deutschland, haben wir 1.038 Schülerinnen und Schüler im Alter zwischen elf und 17 Jahren in einem Online-Survey befragt. Über die Bezirksregierung Münster wurden alle Schulen der Sekundarstufe I im Regierungsbezirk eingeladen, an der Befragung teilzunehmen.
Die Studienteilnehmer wurden bei den verschiedenen Fragen aufgefordert, Angaben sowohl zur Situation vor als auch während der Kontaktbeschränkungen zu machen. Auf diese Weise konnten wir herausfinden, wie sich das Bewegungsverhalten der Befragten bei jedem Einzelnen verändert hat.
Welchen Fragenstellungen sind Sie bei der Studie nachgegangen?
Wir wollten herausfinden, wie sich das Bewegungsverhalten der Schülerinnen und Schüler durch die Kontaktbeschränkungen verändert, in welchem Zusammenhang dies mit dem jeweiligen Medienkonsum steht und welche Auswirkungen sich möglicherweise auf das psychische Wohlbefinden zeigen.
Wie lauteten die Ergebnisse?
Im Vergleich zu der Zeit vor dem Shutdown haben sich die Jugendlichen während der Kontaktbeschränkungen insgesamt deutlich weniger bewegt. Besondere Sorgen bereitet uns dabei eine Gruppe von etwa 25 Prozent der Befragten, die sich im Shutdown nahezu überhaupt nicht mehr bewegt haben.
Nach Angaben der WHO litten jedoch bereits vor der Sars-CoV-2-Pandemie 80 Prozent der Kinder und Jugendlichen weltweit an Bewegungsmangel. Wir haben es aktuell also mit einer Pandemie innerhalb der Pandemie zu tun. Der ohnehin schon vielfach vorherrschende Bewegungsmangel wird jetzt noch einmal deutlich verstärkt. Die Folgen für die körperliche, psychische und auch psychosomatische Gesundheit können dabei insbesondere bei Kindern und Jugendlichen erheblich sein. Für eine gesunde Entwicklung in dieser Phase sind körperliche Aktivität, Bewegung und Sport von entscheidender Bedeutung.
Das Problem existiert etwa ein Jahr. Kann Bewegungsmangel trotzdem schwerwiegende Folgeschäden auf die Gesamtentwicklung des Bewegungsapparates haben?
Diese Frage wird uns noch lange beschäftigen. Ein Jahr ohne ausreichend Bewegung hat in jedem Fall spürbare Folgen für den Bewegungsapparat. Diese reichen von Haltungsschäden über verminderte Beweglichkeit und die Abnahme der motorischen Leistungsfähigkeit bis hin zu einer möglichen Verringerung der Knochendichte. In welchem Maße diese Auswirkungen reversibel sind, hängt davon ab, wie lange der Bewegungsmangel, möglicherweise auch über die Pandemie hinaus, fortbesteht. Vor diesem Hintergrund ist es besonders wichtig, im Hinblick auf mögliche Lockerungen der Schutzmaßnahmen, ein „Wiederbelebungsprogramm" für Sport, Spiel und Bewegung zu starten, um alle Kinder möglichst schnell und nachhaltig wieder in Bewegung zu bringen. Vor allem den Schulen und Vereinen kommt hier eine besondere Verantwortung zu.
Welche Folgen haben die Kontaktbeschränkungen auf den Medienkonsum? Und wie verbringen Kinder und Jugendliche während der Pandemie ihre Freizeit?
Parallel zur Abnahme der körperlichen Aktivität konnten wir einen deutlichen Anstieg beim Medienkonsum beobachten. Fast die Hälfte der Jugendlichen (45 Prozent) gab an, aktuell acht Stunden oder mehr pro Tag vor einem Bildschirm zu verbringen. Vor dem Shutdown brachten es circa 20 Prozent der Befragten auf einen derart hohen Wert. Alltag und Freizeit der Jugendlichen haben sich mehr und mehr digitalisiert. Das beginnt am Vormittag mit den Videokonferenzen der Schulen und setzt sich nachmittags und abends in der Freizeit fort.
Bei allen gesundheitlichen Gefahren, die von einem so ausgeprägten Medienkonsum ausgehen, stellen die digitalen Kanäle aber aktuell auch eine der wenigen Möglichkeiten dar, im sozialen Austausch zu bleiben.
Welche sozialen Auswirkungen hat es, wenn die Interaktion mit anderen Kindern und Jugendlichen in Schule und Verein flachfällt?
Schule und Verein sind wichtige Experimentierfelder für die individuelle Persönlichkeitsentwicklung. Hier kann ich mich in verschiedenen Rollen ausprobieren, Freundschaften schließen und Konflikte lösen. Wie wir mittlerweile aus mehreren Studien wissen, treten bei den Kindern und Jugendlichen seit den Kontaktbeschränkungen offenbar vermehrt soziale Ängste und Unsicherheiten im Umgang mit anderen Menschen auf.
Welche psychischen Folgen konnten Sie außerdem feststellen?
In unserer Studie, aber zum Beispiel auch in der Copsy-Studie vom UKE in Hamburg, zeichnet sich eine Abnahme der Lebenszufriedenheit und eine Zunahme von unspezifischen Sorgen bei den Kindern und Jugendlichen ab. Darüber hinaus zeigen mittlerweile auch mehrere internationale Studien eine Zunahme von Ängsten, Depressionen und posttraumatischen Belastungsstörungen.
Haben Sie mit den drastischen Ergebnissen der Studie gerechnet?
Nein. Wir sind zwar davon ausgegangen, dass die Bewegungsumfänge abnehmen und der Medienkonsum zunehmen würde. Dass die Veränderungen aber so ausgeprägt sein würden, hat uns überrascht. Zumal die von uns untersuchte Gruppe von Jugendlichen mehrheitlich aus einem Wohnumfeld stammt, das vergleichsweise viele Bewegungsmöglichkeiten bietet. Es steht zu befürchten, dass die Lage in städtischen Ballungszentren in Deutschland noch problematischer ist.
Wie wirkt sich Bewegung generell auf das psychische Wohlbefinden aus?
Bewegung und Sport wirken als Stresspuffer und können Anspannung lösen. Obwohl Sport, während ich ihn betreibe, selbst ein Stressor ist, sinkt das Stressniveau in der Ruhephase danach spürbar ab. Wir sehen das an verringerten Konzentrationen von Stresshormonen wie Adrenalin und Kortisol.
Doch auch langfristig kann körperliche Aktivität zu einer verbesserten Stressresilienz führen. Auch wenn die zugrundeliegenden Mechanismen bisher vor allem im Tierversuch untersucht wurden, scheinen hierbei durch Sport und Bewegung veränderte Hormonkonzentrationen im Gehirn eine wichtige Rolle zu spielen. Dem Hormon Noradrenalin – beispielsweise – wird eine besondere Wirkung in der Stress- und Emotionsregulation zugesprochen.
Daneben entfaltet der Sport seine wohltuende Wirkung aber auch auf psychologischer Ebene, auf der es weniger um Fragen der Neurobiologie geht als mehr um das übergeordnete Erleben und Verhalten der Menschen. Viele Menschen fühlen sich zum Beispiel nach dem Sport besser, weil sie das gute Gefühl genießen, etwas für ihre Gesundheit getan oder Zeit mit einem Freund oder einer Freundin verbracht zu haben. Genauso entsteht durch die willentliche Überwindung winterlicher Antriebslosigkeit ein Gefühl von Selbstwirksamkeit und Kontrolle. In einer Zeit, in der wir uns vielfach hilflos diesem fremden Virus ausgeliefert fühlen, kann sich das Erleben von Kontrolle und aktivem Handeln sehr positiv auf unser psychisches Wohlbefinden auswirken.
Wie lässt sich Bewegung am besten in den Pandemie-Alltag integrieren und welche Alternativen gibt es zu Sport in Schule und Verein?
Vorab müssen wir hier festhalten, dass wir nicht im Besitz eines Patentrezeptes zur Aufrechterhaltung der sportlichen Aktivität unter Pandemie-Bedingungen sind. Es muss auch vermieden werden, so zu tun, als ob der um sich greifende Bewegungsmangel allein die Folge fehlender Selbstdisziplin oder der Ideenarmut jedes Einzelnen sei. Die Zeiten sind einfach schwierig für den Sport.
Grundsätzlich wird für Schulkinder und Jugendliche aber empfohlen, sich mindestens 60 Minuten pro Tag aktiv zu bewegen und Sport zu treiben. Darüber hinaus sollte es jeden Tag auch nach draußen gehen. Eltern sprechen hier gern vom täglichen „Kinderlüften".
Auch wenn die aktuelle Lebenssituation in jeder Familie eine andere ist, so können ein paar allgemeine Empfehlungen vielleicht dennoch dabei helfen, ein gesundes Maß an Bewegung und Sport aufrechtzuerhalten:
• Wann immer möglich, feste Verabredungen mit einem Freund oder einer Freundin treffen (Fußball im Garten, gemeinsames Lauftraining, Spielplätze als Sportplätze nutzen).
• Spielerische, bewegungsorientierte Unternehmungen mit der Familie (Sonntagsspaziergang mit Geocaching, Ausflug in die Natur zum Picknick, Staudamm bauen am Bach, Nachtwanderung im Wald).
• Wegstrecken im Alltag bewusst mit dem Rad oder zu Fuß machen – das Auto so oft wie möglich stehen lassen.
• Ein persönliches Sportprojekt für den Shutdown umsetzen (in vier Wochen möchte ich ohne Pause um den See laufen können, im Handstand stehen, mit vier Bällen jonglieren, die Krähe im Yoga beherrschen).
Wie kann man sich allein zu sportlichen Aktivitäten motivieren?
Aktuell ist das Sporttreiben mit einer weiteren Person ja in den meisten Regionen erlaubt. Grundsätzlich empfehlen wir auch, mit einem Trainingspartner feste Sportzeiten in der Woche zu vereinbaren, da man ansonsten viel zu leicht Ausreden findet, warum es ausgerechnet heute mit dem Sport nicht klappt.
Ansonsten sind konkrete und realistisch erreichbare Ziele wichtig. Was möchte ich bis wann erreicht haben und wie komme ich dahin? Solche Ziele motivieren zum Trainieren und geben uns ein Gefühl von Kontrolle. Wir können uns so selbst beweisen, dass wir aktiv etwas tun können und der Pandemie nicht hilflos ausgeliefert sind.
Wirkt sich Bewegungsmangel bei Kindern schlimmer aus als bei Erwachsenen?
Die Frage, ob ich ein aktives, bewegungsorientiertes Leben führen werde, entscheidet sich im Kindes- und Jugendalter. Hier bilden sich die Lebensstile heraus, die in späteren Jahren nur selten noch verändert werden. Wer im Shutdown lernt, dass Sport eine einsame und langweilige Sache ist, dem wird es auch in Zukunft schwerfallen, ein aktives und bewegungsorientiertes Leben zu führen.
Darüber hinaus gibt es Phasen im Kindes- und Jugendalter, in denen konkrete Entwicklungsschritte absolviert werden müssen. Die Entwicklung der motorischen Fähigkeiten ist ein gutes Beispiel dafür. Was hier in der Kindheit versäumt wird, lässt sich später nicht mehr nachholen.
Ein weiterer, ganz entscheidender Punkt ist aber auch, dass Kinder Bewegung, Spiel und Sport aktiv für ihre Emotionsregulation nutzen. Fallen nun Bewegungsmöglichkeiten weg, spüren Kinder das, stärker als Erwachsene, an einer zunehmenden Unruhe, Gereiztheit, Aggressivität oder auch Depressivität.
Sie haben über 1.000 Jugendliche im Raum Münster untersucht. Denken Sie, dass die Studie auch für andere Gebiete repräsentativ ist?
Die Teilnehmer in unserer Studie wurden nicht repräsentativ ausgewählt. Und somit sind auch die Ergebnisse nicht ohne Weiteres auf alle anderen Jugendlichen in Deutschland übertragbar. Die Schüler in unserer Stichprobe sind zum Beispiel größtenteils Gymnasiasten und leben in einem eher wohl situierten Wohnumfeld. Im Vergleich zu vielen anderen Jugendlichen in Ballungsräumen hatten sie also recht gute Ausgangsvoraussetzungen. Umso überraschender, dass sich die negativen Folgen des Shutdowns auch in dieser Gruppe so deutlich zeigten.
In weiteren nationalen und auch internationalen Studien sehen wir, dass Kinder und Jugendliche aus ärmeren und räumlich beengten Verhältnissen noch stärker unter der Situation leiden.
Werden Sie weiter an den Auswirkungen des Bewegungsmangels forschen?
Ja, die Auswirkungen der Corona-Krise auf die körperliche und psychische Gesundheit von Kindern und Jugendlichen wird unsere Arbeitsgruppe noch lange beschäftigen. Nach den bisherigen Querschnittsuntersuchungen wird es als Nächstes darum gehen, Gruppen von Kindern und Jugendlichen über einen längeren Zeitraum hinweg immer wieder in Längsschnittstudien zu untersuchen. Nur so können wir herausfinden, welche längerfristigen Folgen die Kontaktbeschränkungen tatsächlich haben.
Besonders interessiert uns dabei die Situation von Menschen mit psychischen Belastungen. Wie haben sich die Schutzmaßnahmen der Pandemie auf Kinder und Jugendliche ausgewirkt, die sowieso schon an einer Angststörung, einer Depression oder einer Essstörung gelitten haben? Wie kann es gelingen, auch diese Gruppe für einen aktiven Lebensstil zu gewinnen?