Nicht erst seit Corona müssen viele Menschen mit wenig auskommen. Dadurch wird auch das Geld für Haustiere knapp. Tiertafeln und mobile Tierarztpraxen können helfen.
Der Mann sieht aus wie 50, könnte aber auch jünger sein. Abgetragene Lederjacke, Turnschuhe, lange graue Haare, die er zu einem Pferdeschwanz zusammengebunden hat. „Ich bin zum ersten Mal hier", sagt er mit leiser Stimme und erzählt, dass kürzlich seine Miete erhöht worden sei. Zu Hause warte eine Katze auf ihn, 15 Jahre alt und hungrig. Dann kramt der Mann in seinem Rucksack und holt einen Stapel Papiere hervor. „Brauchen Sie was vom Arbeitsamt?"
Es ist 11 Uhr vormittags, Futterausgabe in der Düsseldorfer Tiertafel. Im Schaufenster liegen Katzenbäume und Hunde-Transportboxen, wie in einem Fachgeschäft. Davor stehen ein Dutzend Menschen mit Rucksäcken und Einkaufskarren. „Als armer Mensch ist man nichts wert", sagt ein älterer Herr. „In reichen Städten ist es besonders schlimm", flüstert ein anderer. „Da schauen die Menschen hochnäsig auf dich herab." Vielen ist ihre Geschichte peinlich, weshalb sie nicht namentlich genannt werden möchten. Der Grund, der die Wartenden vor das Ladenlokal geführt hat, ist jedoch bei allen gleich: Das Geld reicht nicht aus, um ihre Haustiere zu versorgen.
In den Räumen der Tiertafel herrscht ein striktes Regiment. Neue Kunden (wie die Hilfesuchenden hier genannt werden) müssen sich zunächst registrieren und ihre Bedürftigkeit nachweisen. Danach erhalten sie einen Eimer Futter, den sie beim nächsten Mal wieder auffüllen lassen können: 1.500 Gramm plus Leckerlis für einen kleinen Hund, 4.000 Gramm plus Leckerlis für große Rassen. Auch Katzen, Kaninchen oder Fische werden versorgt; das Futter soll zwei Wochen reichen oder zumindest einen Großteil des Bedarfs abdecken. Die meisten Artikel stammen aus Spenden; auch Beißringe, Decken oder Körbchen werden bei Bedarf ausgegeben. Aber nicht umsonst: Zwischen 0,50 Euro und 2,50 Euro sind als Zuzahlung fällig, je nach Größe des Haustiers. Es ist ein symbolischer Beitrag, der den Menschen das Gefühl geben soll, keine Almosen zu empfangen, sondern tatsächlich Kunden zu sein.
Bedürftigkeit muss nachgewiesen werden
In Düsseldorf existiert die Tiertafel seit 2014. Die sozialen Nöte, die durch eine solche Institution gemindert werden sollen, sind jedoch überall gleich, egal ob in Berlin, Zürich oder Wien. Wenn Menschen ihren Job verlieren oder aus anderen Gründen in die Armut abrutschen, reicht das Geld kaum noch für den eigenen Bedarf, geschweige denn zur Versorgung von Hunden, Katzen oder Meerschweinchen. „Der Grundbedarf der Sozialhilfe ist zu tief bemessen", sagt Stefan Gribi von der Schweizer Caritas. „Es ist also für Armutsbetroffene sehr schwierig oder sogar unmöglich, ein Haustier zu finanzieren, ohne sich in anderen Bereichen wie etwa der Ernährung in einem unzumutbaren Maß einzuschränken." Laut Caritas waren 2018 in der Schweiz 660.000 Personen von Armut betroffen, davon 144.000 Kinder – trotz Wirtschaftswachstum und niedriger Arbeitslosigkeit. Mareike Schimion, Vorstandsmitglied der Düsseldorfer Tiertafel, bringt es auf den Punkt: „Wenn es genügend staatliche Unterstützung gäbe, bräuchte es uns nicht", sagt die 39-Jährige. Obwohl Haustiere gerade für ältere Menschen oft die einzigen sozialen Kontakte bilden, gelten sie für Behörden nicht als Familienmitglieder. „Am Monatsende merkt man es immer besonders", sagt Schimion. Dann sei die Schlange vor der Tiertafel länger als sonst. „Der Bedarf ist in den letzten Jahren eher gestiegen", sagt die Helferin, wobei es aber auch positive Fälle gebe. „Wir erleben immer wieder Leute, die einen neuen Job finden und wieder selbst für ihr Tier aufkommen können." Rund 500 Kilo Futter verteilt die Düsseldorfer Tiertafel an einem Tag. Ob heute mehr Tierbesitzer unter Armut leiden als früher, lässt sich statistisch nicht belegen. Die Hundesteuer mag noch einen Anhaltspunkt bieten, doch welcher Hamster ist schon behördlich erfasst. Zumindest das Problembewusstsein scheint aber zu steigen. So existieren entsprechende Hilfsangebote inzwischen in vielen Regionen. In Berlin fährt ein „Hunde Doc" soziale Brennpunkte an, um obdachlose jugendliche Tierhalter zu unterstützen. In Brunnenthal im Schweizer Kanton Solothurn hilft der Verein „Hoffnungs-Felle" mit Futter, Katzenstreu oder Halsbändern. Einig sind sich die Organisationen darin, dass die tierischen Familienmitglieder schon vor der sozialen Notlage da gewesen sein müssen – es sollen keine Anreize geschaffen werden, neue Hunde oder Katzen zu halten. Unterschiede bestehen jedoch darin, wie die Vereine den Begriff „hilfsbedürftig" definieren. Die Düsseldorfer Tiertafel verlangt einen offiziellen Bescheid (Hartz IV, Sozialhilfe, Mini-Rente, Grundsicherung). Bei „Hoffnungs-Felle" legt man es etwas großzügiger aus. „Manchmal geraten auch Menschen, die nicht auf Sozialhilfe angewiesen sind, in eine kurzfristige Notlage", erklärt Vereinspräsident Anderson Rocha. Durch die Corona-Pandemie könnte sich die Lage nun nochmals verschärfen. „Wir schätzen die Zunahme der Anfragen auf circa 20 Prozent", sagt Arlette Sumi, Präsidentin der Schweizer Tiertafel. 3.000 Klienten sind in ihrer Kartei, wobei aber nicht alle von ihnen regelmäßig Futter beziehen. „Der Anteil der armen Menschen nimmt in unserem Land von Jahr zu Jahr zu", sagt Sumi. „Wir kämpfen dafür, denjenigen, welchen es am schlechtesten geht, eine kleine Hilfe zu sein." Kritisch wird es vor allem dann, wenn der Vierbeiner krank wird. Impfungen und Medikamente gehen ins Geld. Wenn dann noch Operationen hinzukommen, können die Kosten schnell die monatliche Sozialhilfe übersteigen. Der Verein Europäischer Tier- und Naturschutz (ETN) hat deshalb mehrere Rettungswägen zu mobilen Tierarzt-Praxen umgebaut. Die Mobile sind in Serbien und auf den Kanarischen Inseln im Einsatz – und in Deutschland. „Wir dachten erst: ,Was wollen wir hier?‘", sagt Tierärztin Claudia Gomez während eines Zwischenstopps in Bonn. Doch auch in vermeintlich reichen Ländern gebe es schlecht bezahlte Jobs, Mini-Renten und Perspektivlosigkeit. „Es dauerte keine fünf Minuten", sagt Gomez, „da waren die Leute an unserem Wagen."
Kritisch wird es, wenn das Tier krank wird
Inzwischen kommt das Tierarzt-Mobil dreimal pro Woche nach Bonn. So auch an diesem Morgen. Eine Seniorin, die kein Deutsch spricht, hat ihren Sohn zum Übersetzen mitgebracht. Und ihren Hund. Der kleine Mischling hechelt und zittert, doch Gomez gibt Entwarnung: „Das ist normal", erklärt die Tierärztin. „Er ist einfach nur alt." Als Nächstes erscheint ein älterer Herr im Armee-Parka, an der Leine sein Chihuahua. „Den haben wir vor ein paar Jahren aus ganz schlechter Haltung übernommen", sagt der Mann. „Jetzt wollen wir ihn mal untersuchen lassen." Auch hier ist – bis auf überlange Krallen – alles in Ordnung.
Das Tierarzt-Mobil, das ausschließlich von Spenden lebt, ist aber auch für größere Eingriffe ausgestattet. „Wie eine richtige Praxis", sagt Claudia Gomez. Schwieriger sei es, die Hemmschwelle bei ihren Besuchern zu überwinden. Zu ihren Klienten zählten sowohl Drogenabhängige und Obdachlose als auch Rentnerinnen oder Menschen ohne Arbeit. „Ich schicke niemanden weg", sagt die Tierärztin. „Für viele ist ihr Tier ihr Lebensinhalt, ihr einziger Bezugspunkt, gerade in Corona-Zeiten." Den meisten falle es dennoch schwer, Hilfe anzunehmen, gerade beim ersten Mal. „Dabei muss sich niemand schämen", betont die Tierärztin. „Wir wissen doch alle nicht, ob unsere Rente einmal reicht." In Düsseldorf hält am Mittag ein Lieferwagen hinter der Tiertafel. Das Fahrzeug ist mit Dosenfutter, Katzenstreu und Kauknochen vollgepackt – Spenden von Privatpersonen, Supermärkten und Tierfachgeschäften. Vorne legt eine Frau einen Napf auf den Tresen. „Sollen wir ihn mit Katzenfutter füllen?", fragt die Mitarbeiterin, die die Kundin schon kennt. Die Frau verneint. „Das ist eine Spende", sagt sie, bevor sie den Napf voller Stolz überreicht. Personen, die ihre Notlage überstanden haben, zählen zu den treuesten Unterstützern der Tiertafel.