Kalabrien wird oft mit Mafia-Skandalen in Verbindung gebracht. Doch die italienische Region kann auch anders. Die Provinzhauptstadt Cosenza besticht mit Aufbruchstimmung und neuer Lebensqualität.
Als Anfang November die zweite Welle der Pandemie die Bevölkerung von Cosenza in Angst und Schrecken versetzte, hat Mario Occhiuto, Bürgermeister der kalabrischen Provinzhauptstadt, eine höhere Instanz um Beistand ersucht. Der 56-Jährige ließ eine Kopie der Ikone „Madonna del Pilerio" über dem Eingang des Rathauses anbringen. Die Madonna ist die Schutzheilige der Stadt und soll diese schon 1576 vor der Pest bewahrt haben. Damals hatte die Epidemie in Kalabrien gewütet und ganze Gemeinden ausgelöscht. Cosenza blieb jedoch verschont. Auf dem Antlitz der Ikone bildete sich just zu dieser Zeit ein schwarzer Fleck. Die Gläubigen erkannten darin ein Zeichen. Mit dieser „Pestbeule" hatte die Madonna die Geißel auf sich genommen und die Bewohner der Stadt vor Siechtum und Pest-Tod bewahrt. Bis heute wird sie dafür verehrt.
seiner Facebook-Seite fing sich der Bürgermeister einige kritische Kommentare ein, vor allem aber erntete er Lob für seine Aktion. Hier, an der Peripherie des Kontinents, ist das Bedürfnis nach Beistand groß. Seit eh und ja, schon seit der nationalen Einigung Italiens vor eineinhalb Jahrhunderten, fühlt man sich hier von der in Rom gemachten Politik verraten und vergessen. Nie hat der italienische Staat die Entwicklung des tiefen Südens, etwa durch die Ansiedlung von Unternehmen und den Ausbau der Infrastruktur, konsequent vorangetrieben. Die Folgen sind nicht zu übersehen. Unter anderem fehlt es an Krankenhausbetten. Nicht nur in der aktuellen Krise.
Bürgermeister erntet viel Lob
Allein auf die Madonna will sich Occhiuto selbstverständlich nicht verlassen. Eilig ließ er ein Feld-Lazarett errichten. Für grundlegendere Verbesserungen der öffentlichen Infrastruktur aber müssen die Weichen auch in der Regionalhauptstadt Catanzaro und in Rom neu gestellt werden. Dafür, dass es sich in Cosenza besser leben lässt, hat der 2011 ins Amt gewählte Bürgermeister allerdings schon einiges getan. Erst kürzlich zeichneten die Tageszeitung „Il sole 24 ore" und die Umweltorganisation Legambiente die Stadt für ihr „urbanes Ökosystem" aus. Als einzige Stadt des Südens schaffte es die kalabrische 70.000-Einwohnerstadt in die Top Ten der urbanen Zentren mit „nachhaltiger Lebensqualität". Eine kleine Sensation. Bislang landeten in diesem Ranking ausschließlich mittel- und norditalienische Städte wie Trento, Mantova und Parma auf den vorderen Plätzen.
Doch jetzt punktet Cosenza mit breiten, von Büschen und Bäumchen gesäumten Fahrradpisten, angelegt auf den mittleren Spuren einer nun drastisch verengten Hauptverkehrsstraße. „Den Autoverkehr einschränken, sanfte Mobilität fördern", das ist Occhiutos Rezept. Auch der Corso Mazzini, die Haupteinkaufsstraße, und viele der kreuzenden Seitenstraßen, sind – bis auf die Anlieferzeiten am frühen Morgen – für den motorisierten Verkehr gesperrt.
Adelsspross schenkte Freilichtmuseum
Kaum sind die Lieferwagen weg, präsentiert sich der Corso als gepflegtes Freiluftwohnzimmer. Tische, Stühle, Sonnenschirme stehen mitten auf der Straße. Hier trifft man sich. Und hier trifft man auf Kunst. Zwei Dutzend Plastiken und Skulpturen von Künstlern wie Salvador Dalí, Giorgio de Chirico und Amedeo Modigliani schmücken die eineinhalb Kilometer lange Meile. Carlo Bilotti, Spross einer Cosentiner Adelsfamilie, international erfolgreicher Unternehmer und Kunstsammler, hat seiner Stadt vor einigen Jahren dieses Freilichtmuseum geschenkt. Abends, vor allem freitags und samstags, wird der Corso zum Zentrum der „Movida". Den spanischen Begriff verwenden auch die Italiener für das quirlige abendliche Treiben, wenn Pärchen, Grüppchen und Familien durch die Straßen ziehen, wenn ein Mix aus Wortfetzen, Lachen, Straßenmusik und Geschirrgeklapper die Luft erfüllt und in den Bars und Restaurants bis weit nach Mitternacht Hochbetrieb herrscht.
Dass im Zentrum seiner Stadt das Leben tobt – wenn es nicht gerade durch Pandemie-Schutzverordnungen ausgebremst wird – feiert der Bürgermeister als seinen größten Erfolg. „In meiner Jugend, in den 70er- und 80er-Jahren, sind wir an den Wochenenden auf die Dörfer gefahren, weil man dort mit vielen anderen Menschen gemeinsam auf der Piazza sitzen konnte. Die Stadt dagegen gehörte den Autos." Wenn der Bürgermeister, ein gelernter Architekt, von „der Stadt" spricht, meint er Cosenzas neue, ab den 60er-Jahren entstandenen Quartiere im Tal des Crati. Der Altstadt, die sich auf der anderen Seite des Flusses malerisch an den Pancratius-Hügel schmiegt, hatten die Bewohner seinerzeit den Rücken gekehrt. Die Straßen waren zu eng für den Autoverkehr. Den Wohnungen fehlte zeitgemäßer Komfort. Nach all den Jahren des Leerstandes ist heute ein Großteil der Gebäude vom Verfall gezeichnet, einfache Häuser bröckeln ebenso wie einst prachtvolle Palazzi.
Seit 2018 verbindet eine weitere, spektakuläre Brücke die Neustadt im Tal und die Altstadt auf der anderen Seite des Crati. Wie eine überdimensionale Harfe überspannt der vom katalanischen Stararchitekten Santiago Calatrava entworfene Ponte mit seinem 104 Meter hohen Stahlmast und Dutzenden tragenden Seilen den Crati. Architekt Occhiuto träumt davon, dass sich auch das alte Cosenza mit neuem Leben füllt. Sanierte Häuser in der Altstadt mit ihren verschachtelten, steilen Gassen könnten für junge Leute eine interessante Alternative zu eintönigen Wohnblocks sein, ist er überzeugt. Noch aber fehlen dafür die Investoren. Die großen Highlights der Altstadt hingegen kann Occhiuto heute frisch restauriert und für Besucher fein gemacht präsentieren – den romanischen Dom, das Kastell aus Normannen- und Stauferzeit, die Nationalgalerie, das neoklassizistische Teatro Rendano mit seiner goldsamtenen Pracht, die Villa in der Komponist Alfonso Rendano einst lebte und die heute ein multimediales Museum für zweieinhalbtausend Jahre Stadtgeschichte ist. Als neuer Besuchermagnet hat ein hypermodernes Planetarium auf der rechten Crati-Seite eröffnet. Demnächst wird es in seiner Nachbarschaft auch ein Museum geben, das Schlaglichter auf die Epoche von Gotenkönig Alarich wirft. Dieser war im Zuge der großen Völkerwanderung ins Stiefelland vorgedrungen, hatte Rom geplündert, und war auf seinem weiteren Eroberungsfeldzug 410 in Cosenza gestorben. Im Busento, der unterhalb der Altstadt in den Crati mündet, wurde Alarich begraben. Mit ihm, so die Überlieferung, ein unermesslicher Schatz.
Kulinarische Herrlichkeiten an jeder Ecke
Der Eifer des Bürgermeisters, Cosenzas Lebensgeister zu erwecken, hat junge Cosentiner inspiriert und in der Stadt gehalten. Etwa die 32-jährige Giada Falcone. Die junge Unternehmerin hat 2019 eine Akademie für Modedesign gegründet. „Auch bei uns kann man lernen, wie man eine Kollektion entwirft", sagt Falcone selbstbewusst. „Dafür müssen junge Leute nicht nach Mailand gehen." Journalist Armando Acri ist aus Rom zurückgekehrt. Statt sich in der Hauptstadt mit befristeten Arbeitsverträgen und exorbitanten Mieten zu arrangieren, hat er sich in der Heimat etwas Eigenes aufgebaut. Seit fünf Jahren gibt der 37-Jährige gemeinsam mit seinem Bruder Andrea das anzeigenfinanzierte Kulturblatt „Infonight" heraus. „Zum Leben reicht das", sagt Acri. Das Plus an Lebensqualität sei ohnehin nicht zu bezahlen. „Von hier aus bin ich mit dem Auto in 40 Minuten am Meer und ebenso schnell in den Bergen der Sila." In Rom habe ihm zudem die Küche Kalabriens gefehlt, gesteht der Journalist und lacht. „Zum Glück hat mir meine Mutter immer Carepakete mit ’Nduja, der chilischarfen Wurst, und Kartoffeln aus der Sila geschickt." In der Stadt am Crati locken kulinarische Herrlichkeiten an jeder Ecke. Zum Beispiel Felice Antonio Giocondo, den alle nur „Professore" nennen. Seine Cantina am Rande der Altstadt ist eine Institution für authentische Regionalküche. ’Nduja kommt schon zur Begrüßung auf dem Tisch. Speist man draußen auf der kleinen Terrasse, gibt’s beim Professore den besten Stadtblick gratis dazu.