Die Zukunft verlässlich voraussagen kann niemand. Mit unseren Entscheidungen heute haben wir aber mehr Einfluss auf die Entwicklung, als gemeinhin angenommen wird. Prof. Uwe Hartmann will in seinem Essay „Das Saarland im Jahr 2050" eine Diskussion anstoßen, wie wir heute zu besseren Entscheidungen kommen können.
Herr Prof. Hartmann, was hat Sie dazu bewogen, sich als Physiker mit der Zukunft des Saarlandes zu beschäftigen?
Ich beschäftige mich grundsätzlich mit der Zukunft. Als Physiker kann man sich mit der Zukunft sehr gut unter bestimmten Blickwinkeln beschäftigen, indem man sich beispielsweise fragt: Was genau können wir über die Zukunft wissen? Es gibt einige triviale Beispiele: Wir können wissen, dass sich das Klima ändert, wenn wir so weitermachen. Wir können im Grunde auch wissen, wie sich die Wirtschaft verändert, wenn wir nicht investieren. Es gibt aber auch unerwartete Ereignisse, und die Summe aus erwartbaren und unerwartbaren Ereignissen bildet unsere Zukunft. Damit sind wir wieder bei der Physik und der Frage: Was ist eigentlich Zeit? Wieso kann ich rückblickend die Zeit beurteilen aber nicht wissen, was in ferner Zukunft passiert? Diese Fragen haben die Menschheit immer schon bewegt. Es gab antike Kulturen, die haben die Zukunft in den Eingeweiden von Tieren gesucht, es gab also die unterschiedlichsten Bemühungen um eine Kenntnis der Zukunft. Die Physik selbst hat keine grundsätzliche Antwort darauf, ob und in welchem Maße die Zukunft – mindestens für einen kurzen Zeitraum – prognostizierbar ist. Das ist aber auch eher eine Frage, die sich auf kosmische Dimensionen bezieht. Ich habe mich demgegenüber mit der Frage beschäftigt – und damit sind wir beim Saarland: Warum versuchen wir nicht, bessere Prognosen zu erstellen? Unsere Prognosen sind zum Teil ungeheuer schlecht. Die Frage ist also: Geht das nicht besser? Die Beschäftigung damit nennt man Prospektionsforschung. Die hat in einigen Ländern eine ausgeprägtere Tradition als in Deutschland, und ich werbe dafür, die Instrumente der Prospektionsforschung auch bei uns besser anzuwenden. Und da finde ich: Das Saarland ist ein passendes Objekt.
Was genau macht das aus, und was ist die Zielrichtung?
Als Naturwissenschaftler bin ich es gewohnt, Zusammenhänge zu erkennen und Schlussfolgerungen daraus zu ziehen. Wenn das System zu komplex wird, man also die ganze Welt auf einmal beurteilen will, ist das eigentlich aussichtslos. Man sollte also Schritt für Schritt vorgehen. Das Saarland hat dafür genau die richtige Größe, und unser Bundesland braucht aus meiner Sicht wirklich sehr präzise Prognosen. Die sind im Saarland wichtiger als andernorts. Sie können das sehen anhand von Fragen wie: Schließt in den nächsten Jahren das Ford-Werk in Saarlouis? Wie geht es weiter mit dem Stahl oder der Automobilzulieferung? Ich bin überzeugt, darauf gibt es bessere Antworten als die, die wir bislang hören. Gute Antworten basieren wesentlich auf den Entscheidungen, die wir heute treffen. Den konsequenten Zusammenhang zwischen dem, was heute entschieden wird und dem, was sich morgen daraus entwickelt, vermisse ich in der Politik gänzlich, zumindest was langfristige Kausalitäten betrifft. Kurzfristig kann man prognostizieren, aber langfristig ist die Politik wenig geneigt dazu.
Wenn das stimmt: Hat das damit zu tun, dass der Blickwinkel die Dauer eine Wahlperiode, also vier oder fünf Jahre, ist?
Das wäre naheliegend. Allerdings ist dieses Verhalten bei Politikerinnen und Politikern sehr unterschiedlich ausgeprägt. Ich würde also nicht sagen, das ist zu hundert Prozent systemimmanent, aber sicher begünstigt durch das System. Man kann das sehr genau während der herrschenden Pandemie beobachten. In mancherlei Hinsicht hat man schon den Eindruck, dass über das Tagesgeschäft hinaus keine größeren Betrachtungen angestellt werden. Ein Beispiel wäre die offensichtlich suboptimale Planung und Durchführung der Impfkampagne. Es gibt aber genauso das Gegenteil, beispielsweise die Abschätzung der langfristigen konjunkturellen Folgen nach bestem Stand heutiger Möglichkeiten weit über eine Legislaturperiode hinaus. Zu den Kausalitäten: Wann der Lockdown ein Ende hat, ist kein reiner Zufall, das beeinflussen wir ganz klar selbst durch die Summe unserer Entscheidungen. Dieses Bewusstsein, dass unsere Entscheidungen auf jeden Fall Konsequenzen haben, müssen wir schärfen. Das ist extrem wichtig.
Dann müsste Ihnen der Satz: „Wir müssen auf Sicht fahren" ein Graus sein.
Das ist er. Ich würde mir viel mehr wünschen, dass man Szenarien wesentlich besser modelliert, wie es beispielsweise mein Kollege Lehr macht (Prof. Thorsten Lehr, Uniklinik Homburg, hat einen Online-Simulator für das Infektionsgeschehen entwickelt, Anm. d. Red.). Man kann im Einzelnen sicher die gewählten Modelle kritisieren. Aber viel kritikwürdiger wäre es, nicht einmal den Versuch einer fundierten Prognose zu unternehmen. In der Wissenschaft sind wir es gewohnt, mit Prognosen rational umzugehen. Nehmen Sie das berühmte „Mooresche Gesetz", mit dem Gordon Moore die Entwicklung der Leistungsfähigkeit von Computern bereits im Jahre 1965 prognostiziert hat. Das empirische Gesetz hat sich schon seit Jahrzehnten als präzise Prognose bewährt. Für mich wäre die Idealvorstellung, dass wir eines Tages komplexe Systeme, auch sozioökonomische, exakt modellieren können: Ich drehe an einer kleinen Schraube und weiß, was das im Großen ausmacht – aktuell etwa beim Inzidenzwert. Das sollten wir auch bei ganz anderen mehr oder weniger komplexen Systemen etablieren. Technisch ist da sehr viel möglich. Es ist schon paradox, dass wir erst während der Pandemie auf die Idee kamen, entsprechende Entwicklungen zu modellieren. Wir hätten ja durch andere Pandemien zuvor gewarnt sein können.
Kann man Zukunftsentwicklungen so mechanisch betrachten?
Was die Sache natürlich kompliziert macht und weshalb man ganzheitliche Prognosen nicht rein mechanistisch betrachten kann, ist, dass das Verhalten der Menschen irrational und nicht gänzlich vorhersehbar ist. Aber moderne Methoden und fortschrittliche Algorithmen –
Stichworte sind etwa neuronale Netze, Künstliche Intelligenz und Big Data – erlauben es in gewissen Grenzen, selbst die Irrationalität einzubeziehen. Das stimmt mich zuversichtlich, dass wir in Zukunft sogenannte digitale Zwillinge auch von sehr komplexen Systemen sehen werden.
Sie haben jetzt essayhaft Szenarien für das Saarland 2050 zur Diskussion gestellt, ein besonders positives, vielleicht ein wenig utopisch, und ein besonders düsteres. Was können wir damit anfangen?
Ich wollte den Bereich aufspannen, in dem wir uns bewegen, mit einem positiven und einem negativen Szenario. Das ist keine reine Fantasterei. Das extrem negative Szenario ist eines, das durchaus eintreten kann. Solche Szenarien sind äußerst wichtig, um die Zukunft im gewünschten Sinne zu beeinflussen. Aufgabe der Wissenschaft ist es im Besonderen, herauszufinden, wie man am besten an den Stellschrauben dreht. Beim Thema Klima ist das allgegenwärtig. Das gilt aber natürlich auch für andere Fragen, beispielsweise: Wann werden wir Elektromobilität haben? Wie sieht die Automobilzulieferindustrie im Saarland in Zukunft aus? Eine interessante Frage ist auch: Werden wir jemals grünen Stahl in größerem Umfang hier erzeugen?
Sie haben den Zeitraum der Betrachtung für 2050 gewählt. Warum ausgerechnet diese Spanne?
Weil es ab diesem Zeitraum beginnt, wehzutun. Es ist relativ einfach, eine Prognose für das nächste Jahr zu machen oder für eine Legislaturperiode. Interessanter ist es, wenn ich Prognosen mit großer Schwankungsbreite habe, die große Gefahren für eine Fehlprognose beinhalten. 30 Jahre ist ein schwer zu prognostizierender Zeitraum, weil die Summe der Einflüsse ziemlich groß ist. Es ist aber auch ein interessanter Zeitraum, weil er eine Generation von uns entfernt ist. Kritiker könnten einwenden: Der macht es sich einfach, weil er selbst wohl nicht mehr erleben wird, was denn nun zutrifft. Das Risiko von Fehlprognosen muss ich eingehen, wenn ich auf Kausalitäten zwischen dem Hier und Jetzt und der Zukunft verweisen möchte. Natürlich kann man sich mit einer solchen Prognose grandios blamieren. Es gibt jede Menge genialer Fehlprognosen in der Geschichte, beispielsweise die bekannte von Bill Gates aus dem Jahre 1981, und viele weitere.
Was Sie skizzieren, sind keine Voraussagen wie beispielsweise beim Wetter. Was ist es dann?
Es sind Szenarien wie: So könnte es sein. Was in der reinen Wissenschaft zwingend nötig ist, fehlt dabei: ein Beweis. Ich kann nicht sagen, dass die Zukunft so sein wird. Insofern könnten sie mit einigem Recht sagen, das sei Kaffeesatzleserei. Es ist aber meiner Ansicht nach schon mehr, weil neben eigenen Überzeugungen auch Erkenntnisse eingeflossen sind, die man klar und logisch ableiten kann. Zum Beispiel habe ich prognostiziert, dass das Proteom (Gesamtheit aller Proteine in einem Lebewesen, Anm. d. Red.) des Menschen entschlüsselt wird. Das ist so wichtig, wie es die Entschlüsselung des Genoms vor einigen Jahren war. Das ist eine konkrete Aussage, mit der kann ich richtig oder falsch liegen, aber ich habe sie nicht ohne Grund gemacht. Eine andere Aussage ist, dass wir hier im Saarland eine Wasserstofflandschaft haben werden. Jetzt können Sie sagen, das ist ja auch von prominenter politischer Seite so gewollt. Ich sage ihnen aber: das wird schwerer werden, als sich die Politik das vorstellt. Wenn wir das wirklich wollen, sind da sehr viel mehr politisch flankierende Maßnahmen notwendig. Und damit ist es keineswegs selbstverständlich, dass die politische Absicht in eine zukünftige Realität münden wird. Aber meine Prognose ist in der Tat auch, dass wir für Wasserstoff, Brennstoffzellen und Batterien ein Hotspot werden. Das ist eine echte Prognose, aber ich begründe sie in meinem Szenario 2050
Bei der positiven Variante stellt sich die Frage, ob die nicht zu optimistisch ist. Ich denke an das Stichwort „Datendemokratie". Klingt nach politischer Wunschvorstellung?
Das weiß ich nicht. Ich glaube, dass wir den Datenschutz in dieser Form nicht werden aufrechterhalten können. Es gibt schon jetzt eine Menge Techniken, um Daten zu sammeln, ohne dass man das verhindern kann. Wir können unser Bestes dagegen tun, aber ich glaube, irgendwann wird man das wahrscheinlich aufgeben. Irgendwann werden wir tendenziell unsere Daten nicht mehr für uns behalten können. Das ist bei uns politisch derzeit nicht erwünscht, und es ist auch die Frage, ob das so wünschenswert wäre. Aber ich glaube, es wird so kommen.
Bei Ihrem negativen Szenario stellt sich die Frage, ob das nicht zu pessimistisch ausgefallen ist.
Man sollte es als Warnung verstehen. Ich möchte verdeutlichen, dass man vielfach die langfristigen Konsequenten dessen, was man heute tut, nicht sieht. Wir beeinflussen Zukunft, aber meistens in einer Weise, die man nicht voraussieht. Wenn man das verbessern würde, indem man die Kausalität zwischen dem, was in der Zukunft geschieht und dem heutigen Handeln besser verstehen würde, dann glaube ich, könnten wir Zukunft besser gestalten. Insofern ist das Negativszenario in der Tat eine Warnung. Das positive Szenario ist demgegenüber im Positiven überzeichnet. Da steht das Saarland glänzend da: denken sie an die Verdopplung der Einwohnerzahl in diesem Szenario. Aber sagen sie mir, was daran so offensichtlich falsch ist, dass es aus diesem oder jenem Grund unter keinen Umständen wahr sein kann. Was ich mit dieser extremen Überzeichnung, im Positiven wie im Negativen, klarmachen möchte, ist, dass wir es in der Hand haben.
Wie soll es damit weitergehen?
Ein Instrument der Prospektionsforschung ist, dass man im Grunde jeden auffordert, seine eigenen Szenarien, seine eigenen Zukünfte zu entwickeln. Wir können dann viele solcher Geschichten sammeln. Dies ergibt in der Summe eine differenzierte Vorstellung davon, wie die Menschen die Zukunft in unserem Bundesland sehen. Sie können das für das Bundesland machen oder auch einzelne Teilbereiche herausgreifen. In jedem Fall erhalten wir in Summe differenzierte und reflektierte Szenarien, deren Qualität mit der Zahl derjenigen, die sich an einer solchen „Delphi-Studie" beteiligen, steigt.
Sie haben Ihre Szenarien als eine Art Tour d’Horizon durch das Land gemacht. Gibt es dabei Punkte, von denen Sie sagen, das ist zentral?
An zwei Dingen liegt mir: Ich möchte besonders auf eine zentrale Gefahr und zwei sich durch Forschung und Hightech bietende zentrale Chancen hinweisen: Bei dem negativen Szenario ist mir die Warnung davor wichtig, dass wir schnell in eine Abwärtsspirale kommen können. Ein größerer wirtschaftlicher Verlust kann schnell dazu führen, dass es hier im Saarland sehr unattraktiv wird. Wenn man sich in einem Horrorszenario vorstellt, die Stahlindustrie stirbt, ZF taumelt und die Energieproblematik wird nicht gelöst, dann ist es zappenduster. Ich sehe das als wirklich problematisch an.
Ich glaube aber auch, dass wir hier bei uns mit der Problematik der Belastung der Atmosphäre bislang nicht wirklich ausreichend umgehen und unser technisches Know-how nicht richtig ausschöpfen, was beispielsweise eine Verringerung des CO2 angeht. Dabei sind eigentlich Wege bekannt, wie man das machen könnte und wie dadurch sogar wirtschaftliche Chancen entstehen können. So sähe ich eine Riesenchance für das Saarland, wenn man beispielsweise einen interdisziplinären Bereich mit Uni und HTW initiierte, der sich mit Verfahren zur Konditionierung der Atmosphäre beschäftigte. Da sähe ich im Grunde eine noch größere Chance als beispielsweise für den Nano-Bio-Med-Bereich, der gegenwärtig gerade in den Fokus rückt. Die andere zentrale Chance sind die Simulation und Modellierung komplexer Systeme, die einem unter anderem grundsätzliche Entscheidungen erleichtern kann. Wir sind schließlich ein gewachsener renommierter Informatikstandort. Ich glaube, das Saarland könnte in diesen beiden, für die Zukunft so wichtigen, Bereichen eine absolute Vorreiterstellung einnehmen, gerade weil wir die Chance haben, das interdisziplinär und ganzheitlich anzugehen.