Die Krise verschärft eine Spaltung der Gesellschaft und trägt zu einer weiteren Polarisierung bei, sagt Christoph Butterwegge, renommierter Politikwissenschaftler und Armutsforscher. Vielfach liefere die Politik ein „unwürdiges Schauspiel" ab. Dabei biete die Krise auch die Chance für eine „Renaissance der Solidarität".
Herr Butterwegge, inwieweit hat die Pandemie die Gesellschaft noch mehr zerrissen, als sie es nach Ihrer Analyse ohnehin schon war?
Aufgrund der Covid-19-Pandemie gibt es ökonomische, soziale und politische Polarisierungseffekte. Auf der einen Seite werden manche Personen in der Pandemie noch reicher, und zwar nicht nur Jeff Bezos (Amazon), sondern auch andere Großunternehmer krisenresistenter Branchen. Das gilt für Lieferdienste, für Lebensmittel-Discounter, für Digitalunternehmen, für die Pharmaindustrie und andere Bereiche. Auf der anderen Seite geraten Millionen Menschen an den Rand des Ruins. Das gilt für Soloselbstständige, für Kleinstunternehmer und erst recht für arbeitslos Gewordene oder noch Beschäftigte, die mit dem niedrigeren Kurzarbeitergeld kaum über die Runden kommen. Kinderlose Transferleistungsempfänger bekommen, wenn sie Hartz IV beziehen, im Mai gerade mal 150 Euro als Einmalzahlung für die höheren Lebenshaltungskosten während der Pandemie. Auf der anderen Seite werden Konzerne wie Tui, Lufthansa, Galeria Karstadt Kaufhof und andere mit Milliardensummen gepampert. Das ist eine Kluft, die das Land zerreißt und soziale Gräben vertieft. Politisch haben die „Querdenker"-Demonstrationen großes Aufsehen erregt. Mancherorts hat es im Jahr der Pandemie mehr Demonstrationen gegeben als in den Jahren zuvor. Unterschwellig brodelt es, weil die Unzufriedenheit mit der Regierung und ihrem Corona-Management groß ist und das Vertrauen in die politische Führung verloren gegangen ist. Für die Gesellschaft ist diese Pandemie eine Nagelprobe, ob sie genügend Gemeinschaftssinn, Zusammengehörigkeitsgefühl und Solidarität aufbringt, um eine Ausnahmesituation zu bewältigen.
In diesen unsicheren und unübersichtlichen Zeiten hört man immer wieder die Forderung nach klarer Führung. Wie wirkt das auf die Politik zurück?
Das ständige Hin und Her sowie das politische Gezerre um die Infektionsschutzmaßnahmen sehen große Teile der Bevölkerung als unwürdiges Schauspiel an, bei dem sich viele Menschen wünschen, dass jemand sagt, wo es langgeht. Der ebenso seltsame wie seltene Auftritt der Kanzlerin bei Anne Will hat gezeigt, dass sie die ständigen Konflikte in den Bund-Länder-Verhandlungen leid ist. Das sieht die große Mehrheit im Land vermutlich genauso. Dass der CSU-Vorsitzende Markus Söder beliebter ist als der CDU-Vorsitzende Armin Laschet, hat viel damit zu tun, dass Söder eine Person verkörpert, die mit dem nötigen Selbstbewusstsein auftritt und sagt, wo es lang geht. Nämlich eher in Richtung eines konsequenteren Schutzes der Bevölkerung und einer Verschärfung des Lockdowns, während Armin Laschet eher so, na ja, eben lasch daherkommt und im schlechten Sinn als liberal dasteht.
Wie kann man dieser Entwicklung begegnen?
Mit einer Renaissance der Solidarität. Und mit dem Bewusstsein, dass eine Gesellschaft, die sich ökonomisch, sozial und politisch spaltet, keine Zukunft hat. Würden die politisch Verantwortlichen mehr Empathie mit den sozial Benachteiligten empfinden, wäre schon viel gewonnen. Es ist vielen Menschen klargeworden, dass selbst die Soforthilfen, Hilfspakete und Rettungsschirme des Staates eine verteilungspolitische Schieflage haben. Gerade die Ärmsten, Wohnungs- und Obdachlose, Migranten, Transferleistungsbezieher und Niedriglöhner wurden, wenn überhaupt, nur am Rande bedacht, obwohl sie als einkommens- und immunschwächste Gruppen die Hauptleidtragenden der Pandemie waren. Ändern kann man an der Situation einer wachsenden Frustration und politischen Unzufriedenheit nur etwas, wenn man solche Gruppen finanziell mehr unterstützt als ökonomisch starke, die über eine mächtige Lobby verfügen. Schauen Sie sich nur den Dax an! Dass der Deutsche Aktienindex während der dritten Infektionswelle einen historischen Höchststand erreicht hat, ist ein Indiz dafür, dass in unserer Gesellschaft etwas schief läuft. Während viele Menschen auf den Intensivstationen der Krankenhäuser mit dem Tod ringen und die Pflegekräfte bis zur Erschöpfung arbeiten, knallen bei den anderen die Champagnerkorken und verbreitet sich an den Börsen eine Goldgräberstimmung. Das heißt ja, dass Menschen immer reicher werden, also Finanzinvestoren und Großaktionäre, während der Staat an Konzerne, die riesige Dividenden ausschütten, Kurzarbeitergeld in Milliardenhöhe zahlt. Das ist eine dem kapitalistischen Wirtschafts- und Gesellschaftssystem innewohnende Ungerechtigkeit. Ob die Menschen daraus den Schluss ziehen, dass sich dies nach der Pandemie ändern muss, weiß ich nicht. Aber auch nach der Finanzkrise 2007/08 sind die politisch Verantwortlichen schnell wieder zur Tagesordnung übergegangen und eine strenge Regulierung der Finanzmärkte ist ausgeblieben.
Es sind noch sechs Monate bis zur Bundestagswahl. Eine Gelegenheit zum Wechsel – oder eher Frustration bei den Wählern?
Ich fürchte eher das Letztere. Es drängt sich ja keine grundlegende Alternative im bald beginnenden Wahlkampf auf. Zwar verliert die Union an Rückhalt, aber zum Teil gehen ihre Wählerinnen und Wähler zur FDP. Das zeigt, dass alles in denselben Bahnen verläuft, aber kein Ruck durch die Bevölkerung geht. Die AfD betrachte ich eher als Scheinalternative für Deutschland, weil sie nichts an den bestehenden wirtschaftlichen Verhältnissen ändern will. Parteien, die eine kritische Alternative gegenüber dem Neoliberalismus darstellen könnten, werden kaum wahrgenommen und drängen sich dem Wahlvolk auch nicht gerade auf. Die Grünen scheinen ihre kritischen Ansätze außer in Bezug auf die Klimapolitik eher abgeschliffen zu haben. Nehmen Sie Baden-Württemberg, wo mit Winfried Kretschmann zwar ein Grüner Ministerpräsident ist, der sich aber in seiner Regierungspraxis kaum von dem unterscheidet, was Konservative tun. Robert Habeck und Annalena Baerbock sind zwei sympathische Persönlichkeiten, die rhetorisch brillieren und vom Charisma her Wählerinnen und Wähler ansprechen, aber inhaltlich sehe ich, jedenfalls was die Wirtschafts- und Sozialpolitik betrifft, keine scharfen Konturen. Systemkritik wird, wenn überhaupt, in homöopathischen Dosen geäußert. Das ist natürlich zu wenig, um einer enttäuschten und zerrissenen Wählerschaft etwas zu bieten, was diese mitreißen könnte. Eine Koalition von CDU und Grünen wird die Bevölkerung noch mehr enttäuschen als die jetzt im Bund regierende.
Und die SPD?
Die präsentiert mit Olaf Scholz einen Kandidaten, der als letzter Mohikaner der Agenda-Politik wenig Vertrauen bei Menschen genießt, die der SPD einen sozialen Abstieg zum „Hartzer" verdanken oder als prekär Beschäftigte fürchten müssen, zu „Kunden" des Jobcenters zu werden. Ob Scholz eine Aufbruch- und Wechselstimmung erzeugen kann, ist stark zu bezweifeln. Die neue Parteispitze der SPD repräsentiert eine Abkehr von der „Agenda"-Politik und von den Hartz-Gesetzen, kann diese Linie aber bisher nicht durchsetzen. Für einen Wechsel müsste die Partei sowohl vom Programm als auch vom Personal und auch von der Machtperspektive eine überzeugende Alternative bieten. Allein schon das Bekenntnis zu Rot-Grün-Rot als Koalitionsoption könnte zu einem Stimmungsumschwung führen. Ohne die Linke wird es nicht weniger Ungleichheit und mehr soziale Gerechtigkeit geben. Eine „Ampel"-Koalition der SPD mit Grünen und FDP ist nicht geeignet, inhaltliche Alternativen auf der Bundesebene durchzusetzen. Wenn es um steuerpolitische Gerechtigkeit geht, wird die FDP auf der Bremse stehen, und dann ist nicht viel anderes zu erwarten als von der Großen Koalition, der man politischen Stillstand vorwirft.