Das Vertrauen in die Politik sinkt rapide. Dabei werden Chancen verspielt, sagt Martin Hartmann, Philosoph an der Uni Luzern. Es gibt nach wie vor ein Grundvertrauen. Die Erwartung an die Politik ist die nach Verlässlichkeit.
Herr Hartmann, was bedeutet die Diskussion um die sogenannte „Oster-ruhe" und die darauffolgenden Entwicklungen und Debatten für das Vertrauen in die Regierungskunst beziehungsweise in die Regierenden?
Ich schwanke da. Einerseits finde ich gut, wenn man Fehler korrigiert, und das offen kommuniziert, was selten passiert. Andererseits: Wenn kein Lernprozess daraus folgt, dann beunruhigt das wieder. Da bin ich hin und her gerissen. Das Gleiche gilt auch für die Frage: Brauchen wir eine nationale Regelung oder ist es sinnvoller, das den Ländern zu überlassen, weil sie die lokalen Inzidenzen handhaben? Andererseits kann es für die Orientierung auch nicht richtig sein, wenn man unterschiedliche Regelungen hat, je nachdem, wo man lebt, und man sich täglich neu informieren muss. Man sagt, wir sind alle müde, und das ist ja auch so. Es ist aber überraschend, wie viele Leute da noch mitmachen, trotz dieses Chaos. Ich verstehe nicht, warum man nicht versucht, das zu nutzen und eine klare Linie zu fahren. Die Pandemie betrifft uns nicht alle gleich – das haben wir mittlerweile gelernt – aber sie betrifft uns alle. Hier kann die Politik mal über sich hinauswachsen und das Gemeinsame entdecken im Umgang damit. Ich glaube ja sogar, sie kämpft darum, aber dann gibt es etwa den Maskenskandal und andere Fehler – und sofort ist vieles verdorben. Natürlich kann man sagen: Das sind doch nur Einzelfälle. Aber das Fatale ist, dass wir diese Fälle schnell verallgemeinern und dann der ganzen Politik misstrauen.
Vertrauensverlust gegenüber der Politik ist schon eine länger dauernde Entwicklung. Inwiefern ist die durch die Corona-Krise verschärft oder deutlicher geworden?
Wir reden über Vertrauen, das man mit Umfragewerten erfasst. Und da hat es schon vorher zum Teil sehr niedrige Werte gegeben. Diese Werte werden nach Skandalen regelmäßig noch niedriger. Das hat sich jetzt wie in einem Brennglas verdichtet, wo sich die Schwankungen noch viel schneller vollziehen. In den ersten Monaten hieß es: hohes Vertrauen. Da wurde ich gebeten: Schreib doch mal was Philosophisches dazu, warum es wichtig ist, dass wir jetzt in einen harten Lockdown gehen, weil es wichtig ist, jetzt Vertrauen zu haben. Das konnte ich sogar nachvollziehen. Danach ging es aber immer schwankender. Mit Vertrauensfragen kann man uns jagen. Umfragen sind wichtig, um Stimmungen zu messen, ja. Aber jetzt kann man fast tägliche neue Umfragen lesen, das ist so extrem, dass das kein sinnvoller Vertrauensbegriff mehr ist. Vertrauen braucht immer auch eine gewisse zeitliche Streckung, das kann man nicht von heute auf morgen generieren.
Was ist für Sie Vertrauen?
Ich habe ein Verständnis von Vertrauen, das sich von dem in Umfragen unterscheidet, wo man ankreuzen soll, wie sehr man jemandem oder einer Maßnahme vertraut, was den Vertrauensbegriff sehr verkürzt. Vertrauen heißt für mich, anderen etwas Wichtiges anzuvertrauen und darauf zu setzen, dass sie die damit entstehende Verletzlichkeit nicht ausnutzen. In diesem Sinne gibt es sogar noch ziemlich viel Vertrauen, denn ich erwähnte eben, dass die Bereitschaft, bei vielen Maßnahmen mitzumachen, nach wie vor sehr hoch ist. Da gibt es eine Diskrepanz zu den Meinungen, die man abfragen kann und die uns gerade eher niedrige Vertrauenswerte vermitteln, und der gelebten Wirklichkeit, wo man weiterhin besorgt und auch rücksichtsvoll ist, um andere nicht zu gefährden. Das gilt nicht für alle, aber doch immer noch für sehr viele. Das ist für mich eine Dimension von Vertrauen im gelebten Alltag, die wir gerade nicht ernst genug nehmen. Vielleicht auch, weil sie eben nicht in Umfragen erfasst werden kann.
Bedeutet das ein unterschiedliches Vertrauen, sozusagen vertikal gegenüber den Regierenden und horizontal gegenüber anderen Menschen?
Das trifft es ganz gut. Das, was wir generalisiertes Vertrauen nennen, ist weiter sehr hoch, ganz unabhängig von den Meinungen, die man vielleicht aktuell hat. Unsere Inzidenzwerte sind zwar immer noch zu hoch, aber bei weitem nicht so hoch wie bei den Nachbarn, etwa Frankreich. Das mag vielleicht damit zusammenhängen, dass die Leute weiter in der großen Mehrzahl vorsichtig sind. Dafür ist horizontales Vertrauen ein guter Begriff. Das vertikale Vertrauen scheint sich davon abgekoppelt zu haben. Das ist ein interessantes Phänomen, und die Frage ist, wie gehen die Instanzen, wie gehen die politisch Verantwortlichen damit um? Das Gefährliche ist vielleicht, dass sie das vorhandene Vertrauen nicht so richtig erkennen und vielleicht sogar verspielen. Das Schlimmste wäre, wenn die Leute dann irgendwann sagen, es ist mir jetzt scheißegal, ich mache eine Party oder ähnliches, und das nicht nur punktuell, wie es Jugendliche machen, sondern auf breiter Ebene. Wichtig wäre deshalb, dass die Bundesregierung eine Orientierung gibt, die über den Tag hinausgeht.
Hängt das niedrige vertikale Vertrauen eventuell auch daran, dass unsere Erwartungshaltungen an die Lösungskompetenzen der Politik überzogen sind?
Das ist sicher der Fall, wobei man auch da unterscheiden sollte zwischen der generellen Frage und der krisenbezogenen Frage. Generell halte ich die Erwartungshaltungen für überzogen. Da spielt sicherlich auch die Personalisierung der Politik eine Rolle und auch das Phänomen, das man mit dem Begriff der Präsidialisierung der Politik erfasst hat. Eine solche Präsidialisierung sehe ich bei Merkel schon länger. Durch sie wird unsere Aufmerksamkeit extrem fokussiert und auf nur wenige oder sogar nur eine Person konzentriert, die Parlamente werden vernachlässigt. Das Risiko ist klar: Wenn diese Politiker dann Fehler machen, ist das Vertrauen sofort weg. Die Schweiz hat ganz ähnliche Kommunikationskonflikte, es gibt Streitereien zwischen Bund und den Kantonen, alles vollkommen parallel wie in Deutschland, aber die Vertrauenswerte sind nicht so schlecht wie in Deutschland. Ein Grund ist vielleicht, dass alles viel dezentraler ist, nicht alles so fokussiert. Das scheint die Politik ein bisschen zu entlasten und für das Vertrauen sogar förderlich zu sein. Vergessen wir nicht, wir können sehr gnadenlos sein, wenn andere Fehler machen, oft ist unser Verhältnis zur Politik mit dem Begriff Vertrauen gar nicht gut erfasst, denn Vertrauen räumt Gestaltungsspielräume ein und verzichtet auf allzu scharfe Kontrolle. Wer Garantien will, versteht Vertrauen nicht.
Vertraut denn „die Politik" noch der eigenen Bevölkerung?
Am Anfang der Pandemie hat Frau Merkel ja gesagt, wir brauchen die Bevölkerung, die muss mitmachen, das kann die Regierung nicht alleine leisten, wir haben uns da sozusagen auf ein gemeinsames gesellschaftliches Projekt eingelassen. Aber offenbar weiß die Politik nicht mehr, was sie dem eigenen Volk zutrauen kann. Die einen ziehen jeden Tag die harte Karte, Markus Söder und Karl Lauterbach sowieso, Merkel schwankt noch ein bisschen, und die Länderchefs versuchen, sich Spielräume einzuräumen. Das ist eine Kakofonie von Stimmen, wo man keine Linie mehr heraushört. Ich würde dafür plädieren, dass man das Vertrauen wiederentdeckt und verlässliche Entscheidungen fällt. Ich unterscheide dabei ja gerne zwischen Vertrauen und Verlässlichkeit. Worauf es jetzt ankäme, wäre ein verlässliches Regierungshandeln, dann kann vielleicht auch mal wieder Vertrauen entstehen.
Wie könnte das aussehen?
Ich warte förmlich darauf, dass man sagt: So sehen die nächsten vier Wochen aus. Ich rede in dieser Situation nur noch in Wochen, Sommerferien plane ich nicht. Ich verstehe auch nicht, warum man sich nicht zusammensetzt, ohne Zeitdruck, und in Ruhe plant. Vielleicht sollte man sich zwei Tage in eine wirkliche Klausur begeben, mit einigen Experten, aber nicht nur den Virologen. Das ist ja auch oft angemahnt worden, dass vielleicht die Stimmenvielfalt fehlt. Wir haben in letzter Zeit immerhin viel darüber geredet, was das mit Jugendlichen und Kindern macht. Der irrsinnige Zeitdruck, unter dem man Entscheidungen raushauen wollte, war sicher ein Fehler. Das war zum Teil albern und klappte deshalb auch nicht.
Welchen Druck übt dabei die mediale Begleitung aus? Und ist mehr Gelassenheit, etwa in einer Klausur, nicht eine etwas utopische Vorstellung?
Gelassenheit fällt schwer in diesen Zeiten. Was die Medien betrifft, sind die nach meiner Beobachtung auch gespalten, manche wünschen schon länger einen harten Lockdown, andere suchen nach Alternativen oder schlagen andere Maßnahmen vor. Gerade weil das so ist, könnte man der Politik sagen: Ihr müsst euch nicht unter Druck setzen lassen und denken, es gebe nur die eine Mehrheitsmeinung. Das könnte etwas entlasten. Außer dass jetzt alle enttäuscht sind, gibt es nicht die eine Meinung, die in den Medien vertreten wird.
Sie fordern von der Politik mehr Orientierung am Gemeinwohl. Was meinen Sie damit?
Wie gesagt, ich mag eigentlich keine Umfragen, aber ich lese sie. Dabei sieht man, dass immer die Institutionen mit sehr hohen Vertrauenswerten versehen sind, die über Parteiinteressen stehen. In der Schweiz hat das Rote Kreuz fantastische Werte, auch die Feuerwehr, selbst die Polizei hat sehr hohe Werte, wobei das auch davon abhängt, welche Bevölkerungsgruppe man fragt. Warum ist das so? Es hängt wohl damit zusammen, dass diese Personengruppen von eigenen Interessen absehen, um Menschen zu helfen oder Probleme zu lösen, und das scheint generell hohes Vertrauen zu generieren. In Deutschland ist es übrigens das Bundesverfassungsgericht, das höchste Werte hat, auch das Bundespräsidialamt hat deutlich höhere Werte als das Kanzleramt. Gemeinwohl in der Politik ist offensichtlich die Annahme, dass unter größtmöglicher Berücksichtigung aller Interessen Entscheidungen gefällt werden.
Wobei man nie alle Interessen in einer komplexen Gesellschaft unter einen Hut bringen kann ...
Ja, das stimmt grundsätzlich. In der Pandemie sind wir aber in einer Phase, wo es tatsächlich darauf ankommt, Entscheidungen zu treffen, die möglichst vielen von uns helfen, unabhängig davon, welche Partei oder wer das jetzt macht. Trotzdem ist natürlich klar, dass einige unter manchen Entscheidungen mehr leiden als andere. Es gibt immer Verlierer, fragen wir mal die, die nicht im Homeoffice arbeiten können oder die, die auf engstem Raum mit vielen anderen Menschen leben oder die seit Monaten keine Schule mehr von innen gesehen haben. Deshalb ist das Gemeinwohl eine Illusion, die man in der Demokratie aber unbedingt braucht, weil nur so eine Perspektive erhalten bleibt, die partielle Interessen überwindet. Der Religionsphilosoph Moshe Halbertal hat einmal gesagt, es müsse ein Jenseits der Politik geben, auf das sich die Politik bezieht, wenn sie Vertrauen haben will. Ich glaube, er meint damit, dass es ein Jenseits des Streits der Parteien geben muss, damit diejenigen, die der Politik vertrauen sollen, sehen, dass es nicht nur um die Interessen der Politik geht, sondern um unser aller Interessen. Der Wunsch, die Politik möge der Wissenschaft folgen, scheint mir ähnlich inspiriert zu sein, man will die Politik gleichsam von der Politik befreien. Natürlich ist das ein Fehler, denn nicht nur gibt es „die" Wissenschaft nicht, auch müssen Wissenschaft und Politik getrennt bleiben, weil viele scheinbar klare wissenschaftliche Fakten ohne jede Handlungsanleitung sind. Das muss dann eben die Politik leisten, da gibt es keine Alternative.
Orientierungslosigkeit gab es schon vor der Pandemie, eine latente Verunsicherung in der Gesellschaft und eine gewisse Ratlosigkeit. Wie damit umgehen?
Wenn wir außerhalb der Pandemie reden, will ich sagen, dass eine gewisse Unruhe Teil des normalen demokratischen Lebens ist. Eine gewisse misstrauische Unruhe gehört zum normalen demokratischen Betrieb. Ich würde das positiv sehen. Ich würde also die Idee, dass wir alle einer Meinung sein müssen, um Vertrauen auszubilden, gar nicht teilen. Richtig ist, es muss ein stabiler demokratischer Rahmen da sein, auf den man vertrauen kann. Es gibt sicher die, die diesen Rahmen angreifen möchten, das sind die Extremisten auf verschiedenen Seiten. Andererseits gibt es die, die den Rahmen akzeptieren, ihn aber neu interpretieren wollen. Misstrauen ist Teil des demokratischen Rahmenvertrauens. Deshalb würde ich die Verunsicherung mit einer anderen Brille betrachten, eher positiv. Für mich ist das eigentliche Problem nicht Misstrauen. Die eigentlichen Probleme sind Gleichgültigkeit auf der einen Seite und der Angriff auf den demokratischen Rahmen auf der anderen Seite. Das sind die größeren Gefahren. Wenn Misstrauen heißt, dass ich etwas kritisiere, ist das für mich kein Problem.
Nun trifft das Phänomen schon länger nicht nur den Politikbetrieb, sondern andere Institutionen, etwa die Gewerkschaften. Eine unaufhaltsame Entwicklung?
Strukturen sind zum Teil zerbrochen, wenn ich mir etwa die Gewerkschaften ansehe. Auch an den Krankenhäusern können wir sehen, was der Neoliberalismus angerichtet hat. Da ist viel kaputt gegangen und zerstört worden, selbst in der reichen Schweiz ist das bemerkt worden. Es gibt aber auch neue Räume, die sich eröffnet haben und mit denen wir nun umgehen müssen. Dabei spielen die neuen Medien eine entscheidende Rolle. Sicher, das löst Stress aus, es gibt neue Formen der Kommunikation, man nimmt Dinge wahr, die man vorher nicht wahrgenommen hat. Aber das ist auch gut, Demokratie lebt ja auch von ihren unsichtbaren Institutionen, um den französischen Autor Pierre Rosanvallon zu zitieren. Die Frage ist, ob die neuen Formen jemals die Organisationskraft entwickeln werden wie die alten Formen. Die politischen Bewegungen der Gegenwart sind ja sehr zerfranst. Das kann eine Gefahr werden für bestimmte politische Anliegen. Es kann bestimmten Interessen nutzen, weil die anderen in ihrer Vielfältigkeit einfach zu schwach sind.
Führen solche zunehmenden Unübersichtlichkeiten nicht zwangsläufig zur Sehnsucht nach starker Führung?
Das führt sicher bei manchen dazu, dass sie zurück zu einer vermeintlichen Einfachheit wollen. Trump ist so ein Symbol dafür. Das gab es auch nach der Wiedervereinigung. Ich kann das in gewisser Weise verstehen, aber das löst keines von den Problemen, die wir haben. Es ist sicher eine schwierige Phase, in der wir stehen. Ich glaube, dass die populistischen Parteien, die sich jetzt anbieten, kein Problem lösen werden. Trump hat kein Problem gelöst, sondern nur neue geschaffen. Das wäre beispielsweise in Frankreich bei Le Pen nicht anders.
Sie fordern mehr Orientierung am Gemeinwohl. Was meinen Sie damit?
Ich sagte ja schon, dass wir ohne die Rede vom Gemeinwohl nicht auskommen. Aber sie birgt ihre Gefahren, etwa, wenn sich Partikularinteressen den Deckmantel des Gemeinwohlinteresses geben. Die Rede vom „echten" oder „eigentlichen" Volk tut genau das, sie spricht nur vermeintlich für alle. Manchmal denke ich, dass die Sehnsucht nach hohen Vertrauenswerten eine Sehnsucht nach einer starken Einheitlichkeit ist, von der ich gar nicht sagen würde, dass es sie geben muss. Da verdichtet sich gerade sehr viel in der Frage des Vertrauens, vielleicht zu viel. Das Vertrauen muss da auch Dinge tragen, die es gar nicht tragen kann. Etwa eine Sehnsucht nach einem „Die da oben, wir da unten" – und wir vertrauen denen. Wir müssen nicht viel machen, die machen das schon. Das ist nicht mein Bild von Politik. Deswegen ist der Wert von Vertrauen vielleicht nicht ganz so wichtig, wie es auch von vielen Journalisten gesehen wird. Ich glaube, dass die Welt, in der wir leben, auf eine Art unübersichtlich geworden ist, die wir nicht so schnell zurückdrehen können. Wir müssen lernen, mit der Unübersichtlichkeit zu leben, so wie manche jetzt sagen, wir müssen lernen, mit Corona zu leben.