Nach Ruckeln und Rückschläge hat Deutschland jetzt deutlich Tempo beim Impfen zugelegt und entsprechend die Impfstrategie angepasst. Ein Impfangebot für alle bis Ende September, wie es Kanzlerin Merkel in Aussicht gestellt hatte, scheint erreichbar. An mangelnder Impfbereitschaft dürfte eine Herdenimmunität nicht scheitern.
Fast die ganze Republik hatte gerade das erste Bundesnotbremsen-Wochenende hinter sich, als einmal mehr Zahlen im Mittelpunkt standen. Diesmal ging es aber nicht darum, wie man aktuelle Zahlen in den Keller drücken könnte, ganz im Gegenteil. Statt Inzidenzen und Positivquoten standen Zahlen um Impfungen im Zentrum. „Wir kriegen jetzt richtig Dampf rein", zeigte sich Berlins Regierender Bürgermeister Michael Müller kurz vor dem Impfgipfel zuversichtlich. Und von diesem Gipfel sollten optimistische Signale in das Bundesnotbremsenland ausgehen mit Entscheidungen zu Fragen, die sich spätestens seit der ersten Zulassung eines Impfstoffs gestellt haben.
Im Juni sollen die Priorisierungen aufgehoben werden, die notwendig waren, um bei anfänglich geringen Impfstoffmengen zunächst besonders gefährdete Gruppen zu impfen. Damit soll jeder, der das möchte, auch geimpft werden können. In einer wesentlichen Frage, die sich mit dem Fortschritt der Impfungen zunehmend aufgedrängt hat, nämlich Lockerungen und Erleichterungen bei den derzeit geltenden Einschränkungen für vollständig Geimpfte (und Genesene), wurde eine Entscheidung vertagt. Es geht darum, ob die Testpflicht etwa beim Einkaufen oder beim Friseur entfallen kann und soll. Kanzlerin Merkel sprach von einer „schwierigen Übergangsphase", solange lediglich ein Teil der Bevölkerung geimpft ist, selbst wenn es ein zunehmend größerer Teil sein wird. Dabei werden diese Fragen immer drängender.
Denn seitdem auch Arztpraxen nach Ostern in die Impfkampagne einbezogen worden sind, hat es den erwarteten Schub gegeben, der sich mit Betriebsärzten (ab Juni) nochmal deutlich verstärken wird. Die Freigabe der Impfungen war absehbar, wobei Gesundheitsminister Jens Spahn, inzwischen etwas zurückhaltender mit Ankündigungen, meinte, man müsse sich dabei „nicht um fünf oder sechs Tage streiten", die den Unterschied zwischen Ende Mai und Anfang Juni ausmachen.
Anmeldelisten zeugen von hoher Impfbereitschaft
Damit scheint das einst von Bundeskanzlerin Merkel ins Auge gefasste Ziel, wonach jedem Bundesbürger bis Ende September ein Impfangebot gemacht werden könne, doch erreichbar.
Das dürfte inzwischen nicht mehr an mangelnder Infrastruktur für eine derartige Impfaktion liegen, wie sie bislang nicht nur in Deutschland einzigartig ist. Es dürfte auch nicht an Impfzurückhaltung der Bürger scheitern. Denn die strafen inzwischen all die Befürchtungen, wonach hierzulande Impfmuffel, Impf-skeptiker und Impfgegner in der Mehrheit seien, mit langen Anmeldelisten ab. Die wiederum können die Hoffnung nähren, dass eine 70 (plus X) Quote erreichbar ist, die allgemein für eine sogenannte „Herdenimmunität" angenommen wird, also einen Zustand, in dem eine pandemische oder epidemische Ausbreitung des Virus wohl verhindert werden könnte. Besiegt wäre es damit nicht, aber – so die Hoffnung – beherrschbar. Derzeit scheint allenfalls die Frage nach pünktlicher und vollständiger Lieferung der verhandelten und zugesagten Impfstoffmengen diesem Ziel entgegenzustehen. Dabei war der Start kurz nach Weihnachten für das Land, das seiner geradezu übertrieben perfektionistischen Verwaltung und Organisation gerühmt wird, alles andere als ein Ruhmesblatt. Nicht wenige sahen Deutschland schon als Lachnummer im internationalen Vergleich. Ausgerechnet die Briten machen vor wie es geht, und Premier Boris Johnson feiert den Erfolg als Ergebnis der neuen Selbstständigkeit seit dem Brexit. Die reinen Zahlen sprechen dafür, hatte Großbritannien doch in Windeseile über 60 Prozent der Bevölkerung mit einer Erstimpfung versorgt. So geht es halt, wenn man es wie ein Unternehmen anpackt, lautete die Begründung. Die andere Begründung war der Verweis darauf, dass man nicht mehr auf die EU-Impfstoffbeschaffung angewiesen war.
In Großbritannien wird der Impfstoff von Astrazeneca, einem britisch-schwedischen Konzern, eingesetzt. Um diesen Stoff gab es von Anfang an erhebliche Verwirrungen. Beginnend von der Zulassung bis zu erheblichen Nebenwirkungen. Zeitweise waren Impfungen damit auf dem europäischen Kontinent ausgesetzt, um mögliche Gefährdungen zu überprüfen, dann wiederum wurde er nur für bestimmte Altersgruppen empfohlen. Das Vertrauen hatte erheblichen Schaden genommen. Dass sich selbst Kanzlerin und Bundespräsident ausdrücklich mit dem Astrazeneca-Stoff impfen ließen, konnte das Vertrauen nicht vollständig wiederherstellen. Derzeit ist der Impfstoff nach vielfachen Prüfungen in Deutschland für über 60jährige empfohlen, bei intensiver ärztlicher Aufklärung wird er auch ansonsten verimpft. Falls denn mal welcher vorhanden ist. Der EU-Kommission ist offensichtlich der Kragen geplatzt. Sie hat jetzt rechtliche Schritte gegen den Konzern eingeleitet, weil der sich nicht an die Lieferverträge halte. So könnte der Verdacht aufkommen, dass das britische Impfwunder womöglich auch damit zu tun haben könnte, dass man sich nicht mehr einer europäischen Solidarität verpflichtet fühlen musste. Inzwischen haben allerdings auch die Briten Probleme mit Nebenwirkungen und meldeten jüngst fast 170 Fälle von Blutgerinnsel nach der Impfung mit Astrazeneca, in 32 Fällen endete das tödlich. Trotz der massenhaften Verimpfung war Großbritannien bislang weitgehend von solchen Nebenwirkungen verschont, was ebenfalls Fragen aufgeworfen hat. Eine Erklärung könnte sein, dass die Impfungen ziemlich rigide nach Altersgruppen erfolgten. Jüngere Jahrgänge, bei denen die Nebenwirkungen auftreten, waren erst später dran. Trotzdem bleibt die Botschaft der Aufsichtsbehörden: Die Nebenwirkungen haben ein minimales Ausmaß, der Nutzen sei dagegen deutlich höher.
Nebenwirkungen und Mutationen bereiten Sorgen
Immer wieder wird auch das Vorbild Israel zitiert, das früh den Ehrgeiz entwickelt hat, beim Impfen Weltmeister zu werden. Als entscheidend für den Fortschritt werden drei Faktoren genannt. Erstens war Israel offenbar bereit, hohe Preise zu zahlen. Zweitens verfügt das Land über ein voll digitalisiertes und damit auch kontrolliertes Gesundheitssystem. Und es gab offenbar einen Deal mit Pfizer über einen umfassenden Datenaustausch. Damit ist das Land „zum Labor für die Welt" geworden, wie Pfizer-Chef Albert Bourla in einem Interview sagte. Eine derartige Weitergabe umfangreicher Gesundheitsdaten an einen Konzern wäre in dieser Form andernorts nur schwer vorstellbar. In Israel sieht man das offenbar etwas entspannter. Mit einem „grünem Pass", natürlich digital, steht ein weitgehendes Stück Normalität offen.
Ein solches Grünes Zertifikat soll auch europaweit Schritte in die Normalität ermöglichen. Die Umsetzung angesichts der Hürden, die zu bewältigen waren, hätte die EU dann in durchaus rekordverdächtigem Tempo geschafft.
Was bei allen Fortschritten etlichen Experten Sorgenfalten bereitet, sind natürliche, evolutionäre Prozesse. Schon die dritte Welle, auf die jetzt die Bundesnotbremse reagiert, war vor allem Mutationen geschuldet. In Deutschland dominiert die britische Variante. In diesen Tagen hat eine in Indien ausgemachte „Doppelmutation" auf sich aufmerksam gemacht, die von der Weltgesundheitsorganisation unter Beobachtung genommen worden sind.
Impfungen können für das Virus wie eine Einladung zu Mutationen wirken. Die derzeitigen Impfstoffe sind offenbar auch wirksam gegen die bekannten britischen und südafrikanischen Mutationen. Und zumindest Biontech geht davon aus, seinen Impfstoff in vergleichsweise kurzer Zeit auf Mutationen einstellen zu können. Der Kampf gegen das Virus wird noch einige Anstrengungen erfordern. Mehr Tempo beim Impfen bleibt dabei ein zentraler Baustein.