Indien hat sich zum Epizentrum der Pandemie entwickelt
Es ist ein Video, das um die Welt geht – und das Corona-Desaster in Indien illustriert. Eine tote Frau hockt auf einem Motorrad, eingeklemmt zwischen ihrem fahrenden Schwiegersohn und ihrem hinten sitzenden Sohn. Dieser hält seine verstorbene Mutter am Oberschenkel fest, damit sie nicht herunterfällt.
Die Szene ereignet sich in der Stadt Kasibugga im Bundesstaat Andrah Pradesh im Südosten Indiens. Ein Polizist hält das Motorrad an. Es kommt zu einem kurzen Wortwechsel mit Sohn und Schwiegersohn, während Mopeds, Fahrräder und Tuk-Tuks passieren. Dann fährt das Motorrad mit der toten Frau wieder los.
Das Video mit der rund 50-Jährigen wird vom US-Epidemiologen Eric Feigl-Ding auf Twitter gepostet. Die Frau habe unter einer Unterversorgung an Sauerstoff gelitten, schreibt der Arzt. „Wegen der nicht verfügbaren Ambulanz musste die Leiche auf einem Motorrad zu ihrem Dorf transportiert werden." Die Not in dem Land ist so groß, dass auch das Unmögliche möglich wird.
Am vergangenen Wochenende verschärfte sich die Corona-Krise in Indien weiter. Die Behörden meldeten am Sonntag knapp 3700 Tote binnen 24 Stunden – so viele Corona-Opfer wie noch nie. Als weltweit erstes Land registrierte Indien am Samstag und am Sonntag jeweils über 400.000 Neuinfektionen an einem Tag. Mittlerweile entfallen mehr als ein Drittel aller Neuansteckungen weltweit auf Indien.
Die Krematorien in dem südasiatischen Land mit seinen mehr als 1,3 Milliarden Einwohnern sind überfüllt. Die Familien verbrennen ihre Toten in Parks und auf Feldern. Kliniken fehlt es an Medikamenten und Sauerstoffflaschen. In ihrer Verzweiflung stehlen Menschen medizinisches Gerät in Hospitälern, um ihre Covid-kranken Angehörigen zu versorgen.
Der deutsche Botschafter in Indien, Walter Lindner, berichtet von „herzzerreißenden Szenen" in dem Land. „Die Leute ersticken zum Teil in den Autos, weil sie vom einen Krankenhaus zum nächsten fahren", sagt Lindner. Laufend würden Hilfeaufrufe in den sozialen Medien verbreitet.
Indien hat sich in den vergangenen Tagen zum Epizentrum der Corona-Pandemie entwickelt. Allein seit Anfang April wurden mehr als acht Millionen Ansteckungen verzeichnet. Der dramatische Anstieg der Infektionszahlen ist vermutlich auch auf die neue Virusvariante B.1.617 zurückzuführen.
Doch auch Massenveranstaltungen trugen dazu bei. So fand Mitte April das weltweit größte Hindu-Fest Kumbh Mela statt. Mehr als 30 Millionen Gläubige kamen, um ein spirituelles Reinigungsbad im Ganges zu nehmen. Maskenpflicht und Hygiene-Abstand: Fehlanzeige. Zudem wurden Wahlkampf-Treffen mit vielen Tausend Teilnehmern organisiert. Experten hatten vor den Superspreader-Events gewarnt.
Es gibt nach heutiger Erkenntnis nur einen Weg, um die Corona-Katastrophe in Indien einzudämmen: die Impfung. Nach dem Plan der Regierung in Neu-Delhi sollten sich seit dem vergangenen Samstag eigentlich alle Erwachsenen über 18 den begehrten Pikser geben lassen können. Doch mehrere Bundesstaaten schlugen Alarm: Ihnen seien die Vakzine ausgegangen. Bislang erhielten weniger als zehn Prozent der Bevölkerung mindestens eine Impfdosis, schreibt das an die Universität Oxford angedockte Online-Portal One World in Data. Nur etwa zwei Prozent sind demnach vollständig geimpft.
Es rächt sich nun, dass die Pharmazie-Großmacht Indien, die als „Apotheke der Welt" gilt, das eigene Land vernachlässigt hat. Als die Infektionsrate vor wenigen Monaten noch relativ gering war, wurden mehr als 60 Millionen Impfdosen exportiert. Die Regierung hat den Ausfuhren mittlerweile einen Riegel vorgeschoben.
Weltweit haben mehr als 40 Länder Hilfe zugesagt. Eine Maschine der Luftwaffe brachte am Samstag 120 Beatmungsgeräte in die Hauptstadt Neu Delhi. An Bord befanden sich auch 13 Sanitätskräfte, die den Betrieb einer Anlage zur Herstellung von Sauerstoff vorbereiten sollten. Sie weisen zudem Personal des örtlichen Roten Kreuzes ein.
„Im Kampf gegen die Pandemie müssen wir alle zusammenstehen", hob das Bundesverteidigungsministerium hervor. „Die Welt ist nicht sicher bis wir alle sicher sind", sagte Frankreichs Botschafter in Indien, Emmanuel Lenain. Bei der Bekämpfung der Jahrhundert-Seuche ist Abschottung keine Alternative. In der globalisierten Welt hängt alles mit allem zusammen.