Die Weltmeisterschaft in Lettland ist für Bundestrainer Toni Söderholm eine große Unbekannte. Die Zielsetzung fällt ihm daher schwer, doch alles andere als ein Viertelfinal-Einzug wäre eine Enttäuschung. Die Ansprüche sind mit dem Erfolg gewachsen.
Der Frust saß tief und musste irgendwie raus. Nachdem der Eishockey-Weltverband IIHF die Frauen-WM in Kanada nur wenige Tage vor dem Startschuss coronabedingt abgesagt hatte, witterten einige Spielerinnen eine Ungleichbehandlung aufgrund ihres Geschlechts. US-Star Hilary Knight zum Beispiel sprach von einer „weiteren Erinnerung daran, dass Frauen-Eishockey immer noch wie ein sekundärer Gedanke behandelt wird". Auch die Schweizer Stürmerin Alina Müller nannte es „absolut skandalös", und Deutschlands Kapitänin Julia Zorn kritisierte die „unfaire" Entscheidung, die die Saison „mit einem Wimpernschlag auf die schockierendste und unerwartetste Weise" beendet habe. Die Frage, die viele Spielerinnen beschäftigte: Hätte der Weltverband in dieser Lage auch eine Männer-WM abgesagt? Die Antwort auf diese hypothetische Frage ist nicht einfach. Zum einen war es die kanadische Provinz Nova Scotia, die aufgrund strengerer Corona-Auflagen die Austragung der WM verbot, die IIHF machte es mit der Absage nur offiziell. Zum anderen findet die Weltmeisterschaft der Männer nicht in Kanada, sondern in Lettland statt. Die Entscheidungsträger dort hatten – zumindest bis Redaktionsschluss dieser Ausgabe – keine Einwände gegen die Austragung des Events vom 21. Mai bis 6. Juni.
Corona-Alarm gab es trotzdem – und zwar auch im deutschen Team. Die dritte von vier Vorbereitungsphasen musste kurzfristig unterbrochen werden, weil Assistenztrainer Matt McIlvane positiv getestet worden war. Die Spieler, Trainer und Betreuer wurden kurzzeitig auf ihren Zimmern isoliert, das Training wurde online abgehalten. Flexibilität ist in diesen Tagen gefragt – genau wie beim WM-Gastgeber. Lettland trägt das komplette Turnier alleine aus, nachdem Weißrussland die Co-Gastgeberrolle „aufgrund von Sicherheitsaspekten" entzogen worden war. Hintergrund sind die Unruhen in dem von Alexander Lukaschenko diktatorisch geführten Land. Erst auf Druck der Sponsoren hatte die IIHF, dessen Präsident René Fasel gute diplomatische Beziehungen zu Lukaschenko führt, gehandelt.
Von all den sportpolitischen Dingen will Toni Söderholm nichts wissen. Der Bundestrainer ist froh, dass er und seine Nationalmannschaft endlich wieder eine WM spielen dürfen. Das für 2020 in der Schweiz vorgesehene Turnier war nach dem Aufkommen der Corona-Pandemie abgesagt worden. Bei der konkreten Zielsetzung tut sich Söderholm schwer, in diesem Jahr ist der Leistungsstand seines eigenen Teams und das der Rivalen nur schwer einzuschätzen. Man wolle aber auf der WM 2019 „aufbauen", erklärte der Finne. Damals erreichte die DEB-Auswahl nach einer hervorragenden Vorrunde das Viertelfinale, wo sich Tschechien als zu stark erwies. Der Einzug in die K.-o.-Runde muss auch in Lettland das Ziel sein, dieses Anspruchsdenken ist im deutschen Eishockey nach den jüngsten Erfolgen eingezogen. Dafür muss das Söderholm-Team in der Gruppe B mit den Titelkandidaten Kanada, Finnland und USA, Gastgeber Lettland sowie Norwegen, Italien und Aufsteiger Kasachstan mindestens den vierten Platz belegen. Eine nicht einfache, aber machbare Aufgabe. Vermutlich wird das letzte Gruppen-Duell am 1. Juni gegen die Letten ausschlaggebend sein. „Es wird eine große Herausforderung", meinte Söderholm, „aber deutsche Spieler haben sehr viele Fähigkeiten, die Erfolg versprechen."
Die besten deutschen Profis spielen allerdings in der NHL – und die Rekrutierung von Leon Draisaitl und Co. gestaltete sich in diesem Jahr noch komplizierter als sonst. Durch die zahlreichen coronabedingten Spielausfälle zog sich die Hauptrunde in der besten Eishockey-Liga der Welt in die Länge, der Kräfteaufwand war enorm. Erschwerend hinzukommen die Hygieneauflagen bei der WM: Nachzügler müssen zunächst drei Tage in Einzel- und dann drei Tage in Teamquarantäne, ehe sie in Lettland eingesetzt werden können. Natürlich hätte Söderholm gern möglichst viele früh ausgeschiedene NHL-Spieler an Board, „sie bringen der Mannschaft einen Mehrwert". Doch er zeigte sich im Vorfeld realistisch: „Ich glaube, das regelt sich ein bisschen von allein." Die Chance auf Draisaitl war durch den Einzug der Edmonton Oilers in die Play-off-Runde ohnehin nur minimal. Hoffnung bestand auf Jungstar Tim Stützle (19), der in seiner Rookie-Saison bei den Ottawa Senators auf Anhieb bleibenden Eindruck hinterließ, den Vorrunden-K.o. aber nicht abwenden konnte.
Der DEB verzichtet auf die Dienste des Torhüters
Auch Thomas Greiss hätte theoretisch Zeit für die WM gehabt, auch er verpasste mit den Detroit Red Wings die Play-offs. Doch der Deutsche Eishockey-Bund (DEB) verzichtet freiwillig auf die Dienste des Torhüters. Nicht aus sportlichen Gründen, sondern aufgrund einer zweifelhaften Haltung des gebürtigen Füsseners zu gesellschaftspolitischen Themen. „Solange die aktuelle sportliche Leitung dafür verantwortlich ist, wird keine Einladung von Thomas Greiss erfolgen", sagte DEB-Sportdirektor Christian Künast der Eishockey-News. „Wir können uns seiner Einstellung zu unseren Werten, die in der Satzung stehen, nicht zu 100 Prozent sicher sein." Der Auslöser dieser Entscheidung, die in der Szene niemanden mehr überraschte, war Greiss’ Kondolenz-Post auf Instagram zum Tod des rechten Radiotalkers Rush Limbaugh. Dieser hatte öffentlich Frauen, Minderheiten und auch Aids-Kranke verhöhnt und diffamiert. Schon bei der Heim-WM 2017 hatte Greiss mit einem Social-Media-Fehltritt für einen Eklat gesorgt, als herausgekommen war, dass er einen Vergleich der ehemaligen US-Präsidentschaftskandidatin Hillary Clinton mit Adolf Hitler mit einem „Like" versehen hatte. Danach spielte Greiss keine Sekunde mehr im DEB-Trikot, und er wird es wohl auch nie wieder tun. Dabei könnte die Nationalmannschaft einen Goalie seiner Extra-Klasse sportlich sehr gut gebrauchen. Anfang Mai wurde der 35-Jährige nach zwei Shut-outs (Spiel ohne Gegentor) hintereinander zum „First Star" in der NHL gewählt.
In Lettland müssen es aber andere Torhüter richten, Felix Brückmann von den Adler Mannheim oder Mathias Niederberger von den Eisbären Berlin. Auch bei den Feldspielern stellt der Bundestrainer hohe Ansprüche. Trotz der belastenden Saison will Söderholm von seiner Spielphilosophie grundsätzlich nicht abweichen. Sein Team soll nicht wie früher nur tief verteidigen, sondern den Puck haben wollen –
und damit auch etwas anzufangen
wissen. „Einiges werden wir sicher anders machen, aber im Grundgedanken bleiben wir bei der DNA, die wir jetzt haben", verriet der Bundestrainer. Verändern werde er nur „Kleinigkeiten", zum Beispiel, wie direkt und aggressiv auf dem Eis verteidigt werden soll. Das werde gegnerspezifisch angepasst.
Die Vorbereitung verlief schwierig. Söderholm veränderte seinen Kader in allen vier Phasen jeweils massiv, weil von den in der DEL ausgeschiedenen Clubs immer wieder neue Spieler zur Verfügung standen. Das Einspielen machte es deshalb umso schwieriger, was auch die vier Niederlagen in den ersten vier Testspielen gegen die Slowakei und Tschechien erklären. Söderholm beklagte sich jedoch kein einziges Mal, „ich kenne keine andere Art der Vorbereitung", sagte der Nachfolger von Erfolgscoach Marco Sturm. Ja, es war ein ständiges Kommen und Gehen, „aber das war ein positives Chaos", meinte der Finne. Auch für diejenigen, die nicht auf den WM-Zug aufspringen konnten, sei es keine verlorene Zeit gewesen: „Es hat gewisse Vorteile. Du kannst junge Spieler entwickeln und ins System einbauen." Der Bundestrainer schaut mit einem halben Auge bereits auf die Olympischen Spiele 2022, wo Deutschland nach der Bronzemedaille von Südkorea 2018 ein neues Eishockey-Märchen schreiben will. Unmöglich erscheint so etwas nicht, in der Breite und Spitze ist das deutsche Eishockey seit dem auferlegten Programm „Powerplay 26" deutlich besser aufgestellt als noch im letzten Jahrzehnt. „Ich würde Deutschland gern dauerhaft in der Weltspitze sehen", sagte Künast über das Hauptziel seiner nun auch langfristig angelegten Sportdirektor-Arbeit im Verband. „Natürlich ist das sehr weit vorne, aber vielleicht kommen wir irgendwann in diese Richtung. Und da sage ich bewusst vielleicht. Aber das sind unsere Ziele."
Für Söderholm zählt aber erst mal nur das Hier und Jetzt, und das ist die Weltmeisterschaft in Riga. Mittlerweile blickt er dem Turnier sehr viel optimistischer entgegen, nachdem er im Herbst, als in der DEL im Gegensatz zu anderen europäischen Ligen der Puck noch ruhte, mächtig Alarm geschlagen hatte. Doch nachdem die DEL im Dezember den Spielbetrieb aufnahm, kamen auch die Nationalspieler in Form – zum Teil sogar besser, als es sich Söderholm erhofft hatte. „Das ist sehr positiv und ermöglicht uns, dass wir international näher dran sind als damals im Herbst", sagte er. Aber ganz genau wisse er es nicht. Den Spielern, die größtenteils auf bis zu 60 Prozent ihres Gehalts verzichteten, damit die Saison überhaupt über die Bühne gehen konnte, zollte Söderholm allergrößten Respekt. Sicherlich hätte der Bundestrainer auch Verständnis dafür, wenn der eine oder andere Profi nach der Terminhatz auf eine WM in Lettland inmitten der Pandemie freiwillig verzichtet hätte. Aber solche Entscheidungen habe es nicht gegeben, so Söderholm, „die Rückmeldung der Spieler war sehr positiv". Im Gegensatz zu den Frauen dürfen die Männer ihre WM auch austragen.