Solange die Armen nicht vor Corona geschützt sind, bleiben alle verwundbar
Selten wurde die Spaltung der Welt in Arm und Reich so deutlich wie in diesen Corona-Tagen. In China und Amerika brummt die Wirtschaft wieder. In Europa sehnen die Menschen die Pfingst- und Sommerferien herbei. In Indien hingegen sterben Covid-Kranke aus Sauerstoffmangel vor den Krankenhäusern. Auch in großen Teilen Lateinamerikas und Afrikas breiten sich das Virus und hochgefährliche Mutanten rasant aus.
Der Grund für die weltweite Corona-Kluft: Die einen sind geimpft, die anderen nicht. In Israel erhielten bereits mehr als 63 Prozent der Bevölkerung den ersten Piks, in den USA mehr als 46 Prozent und in Deutschland immerhin mehr als 33 Prozent. Dagegen erreichen viele ärmere Länder eine Impfquote im unteren einstelligen Bereich. Bei den Habenichtsen dieser Welt sind bislang nur 0,3 Prozent aller gelieferten Vakzine angekommen, teilt die Hilfsorganisation Ärzte ohne Grenzen mit.
Die US-Regierung hat nun den überraschenden Vorstoß unternommen, den Patentschutz für Impfstoffe vorübergehend auszusetzen. Pharmafirmen sollen demnach auf ihre geistigen Eigentumsrechte verzichten, damit Unternehmen rund um den Erdball die Vakzine ohne Zahlung hoher Lizenzgebühren selbst herstellen können.
Der Grundgedanke der amerikanischen Initiative ist richtig – das konkrete Format hingegen falsch. Richtig ist die Idee, dass wir angesichts der weltumspannenden Pandemie alle in einem Boot sitzen. Es gibt keine privilegierten Länder, die sich durch eine komplette Durchimpfung in eine Art Luxusklasse katapultieren können. Sie bleiben verwundbar, solange auch die armen Länder nicht sicher sind. Können sich aggressive Varianten dort ausbreiten, kommen sie irgendwann auch in die vermeintlich virusfreien Zonen.
Bemerkenswert, dass der Vorschlag aus den Vereinigten Staaten kam. Jenem Land, das das Motto „America First" nicht nur in der Trump-Ära überstrapaziert hat. Auch unter Präsident Joe Biden galt lange Zeit ein weitgehendes Exportverbot von im eigenen Land produzierten Impfstoffen.
Dennoch führt Bidens Vorschlag in die Irre, wenn man ihn eins zu eins verwirklichen wollte. Die hochkomplexen Anlagen von Biontech/Pfizer, Moderna & Co. lassen sich nicht einfach in Malawi, Bangladesch oder Ecuador aufbauen. Auch ist es nicht damit getan, die Impfstoff-Formel freizugeben. Es fehlt in vielen Ländern an den entsprechenden Fabriken, die die Spezialstoffe verarbeiten können. Es mangelt an Knowhow und Personal. Auch ist es schwierig, bei einer Patent-Freigabe Missbrauch zu verhindern. So könnten Vakzine gepanscht und teuer weiterverkauft werden. Der Transfer von Wissen und Technik muss kontrolliert werden.
Bidens Eintreten für eine globale Impf-Solidarität sollte anders aufgezogen werden. Es müssen viel mehr Vakzine in die ärmeren Länder gelangen. Der erste Weg besteht darin, dass die reichen Länder mehr Präparate exportieren. Das steckt auch hinter dem Appell des EU-Gipfels vom vergangenen Wochenende – Bidens Werben für die Patent-Freigabe wurde darin eine Abfuhr erteilt.
Zweitens ist die internationale Impf-Allianz Covax gefragt. Sie stellt armen Ländern Vakzine umsonst oder zu verbilligten Preisen zur Verfügung. Doch die ehrgeizigen Pläne, bis Ende des Jahres zwei Milliarden Impfdosen zu vergeben, stocken. Dies hat auch damit zu tun, dass Covax zum Großteil von den Astrazeneca-Präparaten abhängt, die in Indien hergestellt werden. Aber das südasiatische Land braucht die Vakzine nun selbst.
Umso mehr stehen jetzt die Pharmafirmen in der moralischen Pflicht. Sie haben in der Notsituation der Pandemie viele Milliarden Euro Staatsgelder bekommen. Sie müssen nun verstärkt auch für die Ärmsten der Armen produzieren. Wo möglich sollten sie nach lokalen Partnern Ausschau halten, mit denen sie zumindest teilweise kooperieren können.
Dass die Unternehmen Gewinne machen müssen, um ihre teure Forschung zu finanzieren, ist legitim. Andernfalls gibt es keine neuen hochwirksamen Impfstoffe, was tödlich wäre. Aber vielleicht muss es in diesen Zeiten nicht die maximale Marge sein. Die Regierungen der reichen Länder können dieses Engagement gern mit zusätzlichen Finanzspritzen ergänzen. Aus Verantwortung gegenüber den Ärmeren – und aus Vorbeugung. Denn eines ist klar: Diese Pandemie wird nicht die letzte sein.