Der 23. Mai ist Tag des Grundgesetzes. Wohl noch nie in den über sieben Jahrzehnten ist so viel über Grundrechte diskutiert worden wie in diesen Tagen. Zu Recht.
Am Reichstagsufer steht am Rande des Weges eine kaum beachtete transparente Plexiglaswand. Eingebrannt in sie sind die Grundrechte des Grundgesetzes. Sie sind nicht leicht zu lesen, die Witterung hat sie angegriffen, doch manchmal bleibt jemand stehen und entziffert: „Alle Deutschen haben das Recht, sich ohne Anmeldung oder Erlaubnis friedlich und ohne Waffen zu versammeln" (Art. 8). Oder: „Jeder hat das Recht auf die freie Entfaltung seiner Persönlichkeit, soweit er nicht die Rechte anderer verletzt und nicht gegen die verfassungsmäßige Ordnung oder das Sittengesetz verstößt" (Art. 2). Kann sein, dass man dabei ins Grübeln kommt, denn einige der einst als Abwehrrechte des Einzelnen gegen den Staat formulierten Grundrechte sind seit eineinhalb Jahren von eben diesem Staat eingeschränkt worden – unter Berufung auf eine Heimsuchung, wie sie Deutschland noch nicht erlebt hat: Die Corona-Pandemie.
Die Einschränkungen wurden zwar manchmal wieder gelockert, aber das lag alles im Ermessen der staatlichen Organe. „Die ungestörte Religionsausübung wird gewährleistet."(Art. 4) – kassiert wegen Ansteckungsgefahr. „Alle Deutschen haben das Recht, sich ohne Anmeldung oder Erlaubnis friedlich und ohne Waffen zu versammeln."(Art. 8) – verfällt, wenn Abstandsregeln und Mundschutztragen nicht eingehalten werden. „Alle Deutschen genießen Freizügigkeit im ganzen Bundesgebiet." (Art. 11) – wird aus Infektionsschutzgründen kassiert. „Freie Entfaltung der Persönlichkeit (Art. 2)" – gilt bis heute nicht für bestimmte Berufe wie Schauspieler, Musiker oder Schausteller.
Allzu oft denkt man nicht darüber nach
Bundestagspräsident Wolfgang Schäuble ging am weitesten. Er sprach, davon dass selbst das „Recht auf Leben und körperliche Unversehrtheit" (Art. 2) nicht als höchstes Recht gelte, sondern Artikel 1 „Die Würde des Menschen ist unantastbar." Er gilt, wenn etwa in einer Intensivklinik Leben gegen Leben steht. In das Recht auf Leben darf aufgrund eines Gesetzes eingegriffen werden. „Grundrechte beschränken sich gegenseitig. Wenn es überhaupt einen absoluten Wert in unserem Grundgesetz gibt, dann ist das die Würde des Menschen. Die ist unantastbar. Aber sie schließt nicht aus, dass wir sterben müssen", so Schäuble.
Das war nicht einfach zu verstehen. In der langen Phase der Grundrechtseinschränkungen hat sich aber eine Haltung eingebürgert, als verstünden sich die Freiheitseingriffe quasi von selbst, als seien sie die Norm und notwendig und darum müsse ihre schrittweise Aufhebung gerechtfertigt werden. Allzu oft dachte man nicht weiter darüber nach – was soll ich mich über eine Ausgangssperre aufregen, ich gehe ja eh nach neun Uhr nicht mehr raus. Oder wer eine Kirche nie von innen gesehen hat, dem ist die Religionsfreiheit auch nicht sehr nahe zu bringen. In einem freiheitlichen Verfassungsstaat ist es aber zum Glück exakt andersherum, sagt der ehemalige Verfassungsgerichtspräsident Hans-Jürgen Papier. Jede Einschränkung eines Grundrechts bedarf einer Rechtfertigung und muss den Bürgern genau erklärt werden. Zu Recht bestünden Zweifel an der Verhältnismäßigkeit einiger Corona-Regeln und an dem Wildwuchs zwischen den Bundesländern, wo mancherorts noch verboten ist, was andernorts bereits erlaubt wird.
Das war es, was die frühen Querdenker und Corona-Gegner zu Recht auf die Straße getrieben hat: Dieses nahezu widerstandslose Einverständnis mit allem, was der Staat für die Bekämpfung der Pandemie für nützlich hielt. Dass sich heute in den Reihen der Querdenker alle möglichen Strömungen breit gemacht haben, ändert nichts an ihrer ersten grundsätzlichen Kritik.
Seit Anfang Mai geht es nun darum, wie Geimpfte und Genesene wieder ihre Rechte zurückbekommen können. Bundestag und Bundesrat haben sich auf eine Verordnung geeinigt, die Kontakt- und Ausgangsbeschränkungen aufhebt. Bei Treffen mit anderen Personen werden Geimpfte und Genesene nicht mitgezählt. Also könnten sich zum Beispiel auch in Regionen mit hohen Infektionszahlen zwei nicht geimpfte Menschen mit einer unbegrenzten Zahl Geimpfter treffen. Geimpfte müssen zudem in Läden oder beim Friseur keinen Test mehr machen. Abendliche Ausgangsbeschränkungen fallen für beide Gruppen ebenfalls weg, nach Reisen oder nach Kontakt zu Infizierten müssen sie in der Regel auch nicht mehr in Quarantäne – außer man hat sich mit einer in Deutschland noch nicht verbreiteten Virusvariante angesteckt oder man reist aus einem Virusvarianten-Gebiet ein. Auch Geimpfte und Genesene müssen aber weiter Masken an bestimmten Orten und in Gebäuden tragen und Abstandsregeln befolgen.
Interessanter ist, was nicht aufgehoben wurde: Die freie Entfaltung der Persönlichkeit gibt es (noch) nicht, auch bei der Versammlungsfreiheit und bei der Religionsausübung bleibt es bei Beschränkungen, und Freizügigkeit betrifft nur die abendliche Ausgangssperre, nicht die Einschränkungen beim Urlaubmachen in Deutschland.
Diese Grundrechtseinschränkungen waren und sind nicht auf die leichte Schulter zu nehmen. Doch geändert oder ergänzt wurde das Grundgesetz im Zuge der Pandemiebekämpfung bisher nicht. Das passierte in anderen Zusammenhängen erstaunlich oft, obwohl die Hürden hoch sind: Je eine Zweidrittelmehrheit im Bundestag und im Bundesrat müssen zustimmen. Dennoch wurde das Grundgesetz die am häufigsten geänderte Verfassung Europas. Nicht geändert werden dürfen Artikel 1 (Würde des Menschen) und Art. 20 (Aufbau des Staates) – sie haben Ewigkeitsgarantie.
Es ist nicht in Stein gehauen
Zusammengezählt wirkten sich in den vergangenen 72 Jahren 64 Änderungsgesetze auf 235 einzelne Artikel aus. Dazu gehören die großen Veränderungen wie die durch den Einigungsvertrag, die Aufstellung der Bundeswehr 1956 und die Notstandsgesetze von 1968. Viele Änderungen betrafen keine politischen Themen, sondern die Kompetenzverteilung zwischen Bund und Ländern.
Andere Ergänzungen spiegeln die politischen Debatten ihrer Zeit: So das Asylrecht in Art 16a, das der Parlamentarische Rat kraftvoll und knapp in vier Wörtern ausdrückte „Politisch Verfolgte genießen Asyl." Seit 1994 wurde der Artikel durch 270 Wörter ergänzt (und das heißt eingeschränkt). In Art. 20a wurden der Umweltschutz und später die Tiere eingeführt. Es heißt jetzt „Der Staat schützt auch in Verantwortung für die künftigen Generationen die natürlichen Lebensgrundlagen und die Tiere…"
Und es geht weiter. Umstritten ist zum Beispiel das Wort „Rasse" im Art. 3,3: „Niemand darf wegen seines Geschlechtes, seiner Abstammung, seiner Rasse, seiner Sprache, seiner Heimat und Herkunft, seines Glaubens, seiner religiösen oder politischen Anschauungen benachteiligt oder bevorzugt werden." Derselbe Artikel spricht in Abschnitt 2 von gleichberechtigten „Männern und Frauen". Die Frage nach dem „dritten" Geschlecht wird unweigerlich kommen.
Eine in Stein gehauene Verfassung haben wir also nicht. Dafür ist sie lebensnah und authentisch. Wie viel aber ein Grundgesetz nur grundsätzlich regeln sollte, damit es sich nicht in Einzelparagraphen und Ausführungsbestimmungen verliert, ist eine andere Frage. Die kraftvolle Sprache der Väter und Mütter des Grundgesetzes, die sie 1949 verwendet haben, sollten Änderungen nicht verwässern.