Die amerikanische Soul-Sängerin Andra Day gibt in dem Biopic „The United States vs. Billie Holiday" ihr sensationelles Debüt als Schauspielerin.
Den Golden Globe hat Andra Day verliehen bekommen: In der Rolle der Jazzlegende Billie Holiday wurde sie als „Beste Hauptdarstellerin Drama" ausgezeichnet. Freuen konnte sie sich auch über eine Nominierung als „Beste Hauptdarstellerin" bei der Oscarverleihung. Selten hat jemand mit der allerersten Filmrolle Kritiker und Publikum gleichermaßen so sehr beeindruckt. Und das ganz ohne schauspielerische Vorkenntnisse. Denn Andra Day ist eigentlich mit Leib und Seele Sängerin. Ihre Single „Rise Up" erhielt – ebenso wie ihr Album „Cheers to the Fall" – 2017 eine Grammy-Nominierung. Und 2020 war ihr Song „Tigress & Tweed" als „Bester Song" für den Golden Globe nominiert. „Ich schreibe wahnsinnig gern Songs", meint Andra Day, „aber zurzeit bin ich ganz und gar auf meinen Film fokussiert." Der sollte eigentlich im April ins Kino kommen. Aber aufgrund der aktuellen Lage gibt es „The United States vs. Billie Holiday" ab sofort digital und auch auf Blu-Ray-Disc oder als DVD zu kaufen. Zum Zoom-Interview hat sie sich fein gemacht. Ihre Haarmähne hat sie zurückgebunden. Ihr schwarzer Hosenanzug sitzt perfekt. Die Lippen kirschrot geschminkt, passend zu ihren extralangen Fingernägeln. Wenn sie gestikuliert, flirren sie wie wildgewordene Ausrufezeichen durch die Luft. Im Gespräch ist die 36-Jährige sehr herzlich. Und sie lacht gern und viel. Ein echtes Powerhouse.
Andra, Billie Holiday ist Ihre erste Filmrolle überhaupt. Was gab Ihnen das Selbstvertrauen, diese Jazzlegende spielen zu können?
Ich hatte tatsächlich ungeheuer viel Angst den Film zu drehen. Deshalb habe ich mir vorgemacht, dass es gar nicht zu den Dreharbeiten von „The United States vs. Billie Holiday" kommen würde und ich jederzeit davonrennen könnte. Ich wollte die Rolle wirklich nicht spielen. Ich hatte viel zu viel Respekt vor der großen Billie Holiday. Und ich hatte ja überhaupt keine Schauspielerfahrung und war felsenfest davon überzeugt, man würde mit mir als Billie Holiday einen riesigen Fehler begehen. Doch dann habe ich mich von unserem Regisseur Lee Daniels in langen Gesprächen davon überzeugen lassen, dass ich das Wagnis eingehen sollte. Zu Beginn der Dreharbeiten war ich wahnsinnig nervös und unsicher. Aber mit der Zeit habe ich mich immer besser in die Rolle hineingefunden.
Und dann haben Sie sogar den ikonischen Song von Billie Holiday, „Strange Fruit", live vor der Kamera gesungen …
… was mich auch wieder große Überwindung gekostet hat! Denn das ist der Song, den man wie keinen anderen mit Billie Holiday in Verbindung bringt. Er ist der Höhepunkt des Films und an Dramatik nicht zu überbieten. „Strange Fruit" tatsächlich live zu singen, das war ein sehr emotionaler Moment für mich.
Es ist Ihnen herausragend gelungen, diesen Song neu zu interpretieren. Da waren Sie wohl schon mit der Rolle verschmolzen. Oder wie Lee Daniels sagte: Sie haben Billie Holiday nicht gespielt – Sie waren Billie Holiday.
Ich hatte tatsächlich das Gefühl, dass ich mich während der Vorbereitung auf den Film sehr verwandelt habe – und bei den Dreharbeiten erst recht. Für die Rolle habe ich über 20 Kilo abgenommen. Vor der Kamera habe ich Kette geraucht und war permanent in einem emotionalen Ausnahmezustand. Billie hat sehr viel Alkohol getrunken, harte Drogen genommen mit Dutzenden von Männern geschlafen … Und so eine Frau sollte ich spielen? Ich trinke nicht. Ich rauche nicht. Ich fluche nicht. Drogen nehme ich schon gar nicht. Ich habe nicht einmal Sex! (lacht) Um in die richtige Stimmung zu kommen, musste ich mich in die Zeit zurückversetzten, als ich so Anfang 20 war. Damals habe ich von einem Tag auf den nächsten gelebt, ohne mir viele Gedanken über die Konsequenzen zu machen. Oder gar ein schlechtes Gewissen zu haben. Diese Verwandlung ist mir, glaube ich, ganz gut gelungen. Das habe ich vor allem an den Reaktionen der Menschen gesehen, die mich gut kennen. Meine Familie und meine Freunde waren meist ziemlich verstört –
wenn nicht sogar geschockt – von der neuen Andra.
Haben Sie diese Laster nach dem Dreh leicht ablegen können?
(lacht) Inzwischen habe ich wieder etwas zugenommen. Aber das Rauchen aufzugeben war gar nicht so einfach. Ich habe erst Ende letzten Jahres damit aufgehört. Ich dachte, nach dem Dreh würde ich sofort wieder aufhören können. Aber statt fünf Monate sind dann anderthalb Jahre daraus geworden, auch weil wir viel nachgedreht haben. Den Alkoholkonsum aufzugeben, damit hatte ich kein Problem. Aber diese sehr ungesunde Lebensweise hat mir sehr dabei geholfen, die Rohheit von Billies Charakter zu erfassen, die im Klang ihrer Stimme bei jedem Song zum Ausdruck kommt. Und dann hat mich dieser Billie-Lifestyle auch viel langsamer gemacht. Als Andra bin ich schnell. Da erledige ich meine Sachen zack, zack! Als Billie war ich sehr viel entspannter. Mitunter total relaxt. All das half mir, ihren Rhythmus zu finden.
Singen war für Billie Holiday ihr Leben. Für Sie auch?
Ja, das Singen ist schon mein Lebensinhalt. Aber darin sind noch ein paar andere Dinge enthalten: Das Singen kommt bei mir eigentlich an dritter Stelle. An erster Stelle ist mein Glaube an Gott, dann kommt meine Familie, dann das Singen. Wenn ich keine Familie hätte – so wie Billie Holiday –, dann würde Singen vielleicht sogar an erster Stelle stehen. Ich bin eine sehr spirituelle Person, die sehr bewusst lebt und sich viele Gedanken über das Leben macht. Mit dem Ziel, Gott zu lieben. Und meine Mitmenschen. Ich will meine Mitmenschen so annehmen, wie sie sind. Ohne Vorurteile. Offen auf sie zugehen und versuchen, Gutes in die Welt zu bringen. Ich liebe die Menschen. (lacht) Sogar die total kaputten Typen.
Sie sind mit Leib und Seele Sängerin. Haben Sie jetzt mit der Schauspielerei eine weitere Möglichkeit gefunden, sich auszudrücken?
Wenn Sie mich das während der Dreharbeiten gefragt hätten, dann hätte ich Ihnen sofort geantwortet, dass das meine erste und letzte Filmrolle ist. Und dass ich niemals wieder vor einer Filmkamera stehen werde. Es fordert einem wirklich alles ab. Und es verschlingt jede Menge Lebenszeit. Ich habe drei Jahre meines Lebens in dieses Filmprojekt investiert. Und ich bin mir immer noch nicht ganz im Klaren, was das bei mir wirklich bewirkt hat. Aber ich weiß, dass diese Rolle ein großes Geschenk war. Und sollte mir so etwas noch einmal angeboten werden –
warum sollte ich es dann nicht machen? Was ich bei den Dreharbeiten zu diesem Film erlebt habe, hat meine Sicht aufs Leben verändert. Ich bin reifer geworden.
Welche Bedeutung hat Billie Holiday für Sie persönlich?
Billie Holiday war die Patin der Bürgerrechtsbewegung. Sie hat uns Afroamerikaner zu einer neuen Identität verholfen. Sie hat bei ihren Auftritten immer wieder „Strange Fruit" gesungen, in dem sie die Lynch-Justiz anprangert. Und natürlich hat sie damit ganz bewusst auch die Vereinigten Staaten herausgefordert. Als man sie dafür ins Gefängnis warf und ihr danach das Leben zur Hölle machte, hat sie nicht klein beigegeben. Was für ein Lebensmut! Ihre Geschichte einmal so unverfälscht, so roh und machtvoll zu erzählen, ist mir unheimlich wichtig. Aber da gibt es noch viel mehr zu erzählen. Gerade was die Situation der Afroamerikaner in den USA betrifft. Und auch die LGBT-Bewegung ist mir eminent wichtig. Noch immer werden diese Menschen unterdrückt und sind Repressalien von einem ganz bestimmten Teil der Gesellschaft ausgesetzt. Und das mit voller Absicht. Ich habe begonnen, darüber zu schreiben. Und ich habe angefangen, als Produzentin diese Geschichten mit großartigen Talenten im Filmbusiness zu verwirklichen.
Inspiriert von „Strange Fruit" haben Sie „Tigress & Tweed" geschrieben.
… ja, genau! Vielen Dank, dass Sie das erwähnen. Dieser Song ist mein absoluter Lieblingssong unter allen, die ich je geschrieben habe. Ich habe gut sechs Wochen dafür gebraucht. Ich spürte eine immense Verantwortung Billie Holiday gegenüber. Ich wollte unbedingt den richtigen Ton treffen, um ihr Andenken zu ehren. Ich habe viel gebetet, um alles richtig zu machen. Ich stellte mir vor, wenn Billie Holiday heute noch am Leben wäre, würde sie es vielleicht gern sehen, dass man „Strange Fruit" weiterentwickelt. Und ich wollte unbedingt diese strange fruits – also diese gelynchten schwarzen Menschen – ein für alle Mal vom Baum abschneiden. Wir sind heute nicht mehr traurig, wir hängen heute nicht mehr von Bäumen, wir sind heute keine strange fruits mehr – wir sind strong fruits!
Zum Erfolg war es für Sie ein langer Weg. Welches waren die größten Schwierigkeiten und Verletzungen auf diesem Weg?
Anfangs hatte ich große Probleme mit dem, was die Leute von mir erwarteten. Welcher Typ Sängerin ich sein sollte, wie ich mich anziehen, geben, auftreten sollte. Auf der Suche nach meinem eigenen Stil gab es schon die eine oder andere üble Situation. Mein früherer Manager war ein großes Problem. Aber die größte Hürde, die ich überspringen musste, war ich selbst. Ich bin immer noch mein größtes Handicap. Ich bin immer noch viel zu ängstlich, ja geradezu selbstzerstörerisch. Und ich mache mir ständig Sorgen, wie etwas, das ich mache, ausgehen könnte.
Können Sie ein Beispiel geben?
Als mich Michelle und Barack Obama ins Weiße Haus einluden, wollte ich zuerst gar nicht hingehen. Ich habe mich mit Händen und Füßen dagegen gesträubt. Ich hatte schlicht Angst vor ihnen. Ich hatte das Gefühl, dass ich ihnen nicht das Wasser reichen könnte. Ich war ja nie auf dem College. Und die Obamas sind so gebildet und intelligent – das schüchterte mich total ein. Dann bin ich aber doch hingegangen, und es war ein wirklich schöner Abend. Es hat sehr lange gedauert, bis ich mich dazu durchringen konnte, meinen eigenen Wert zu erkennen. Und mich, so wie ich bin, zu schätzen. Mich gibt es nur einmal. Und es gibt Sie nur einmal. Wir sind alle einzigartig. Ist das nicht wunderbar?