Der Dokumentarfilmer Philipp Lippert begibt sich mit „Kurzzeitschwester" auf eine Spurensuche in die eigene Familiengeschichte. Seine Reise berührt emotional und wurde bereits beim NDR ausgestrahlt. Demnächst folgt die Kinopremiere.
Für die einen ist Familie Hort des Glücks, für andere Quell des Unglücks. Ich sage: Der Familie entkommt man nicht. Familie ist Schicksal. Der Dokumentarfilmer Philipp Lippert spürt einem Ereignis in seiner Familiengeschichte nach. Man könnte vordergründig meinen, er versuchte eine Lücke seiner Erinnerung zu schließen, danach hörte es sich an, als im Januar dieses Jahres eine Pressemitteilung mit der Beschreibung der „Kurzzeitschwester" ins Postfach segelte: „Philipp und Vanessa sind Geschwister und doch irgendwie nicht: Sie wachsen als Gleichaltrige eng verbunden in derselben Familie auf und teilen deshalb einige gemeinsame Erinnerungen – bis zu dem Moment, in dem Vanessa aus Philipps Leben verschwindet. Sechs Jahre ist er damals alt. Genaueres weiß der heute erwachsene Philipp nicht. Das Thema wurde zum Tabu in seiner Familie, denn Vanessa, die als Pflegekind zu den Lipperts kam, wurde nach zweieinhalb Jahren wieder abgegeben – entgegen aller guten Vorsätze der Familie, Vanessa bei sich aufwachsen zu lassen. In „Kurzzeitschwester" begibt Philipp Lippert sich als Regisseur des Films und Protagonist 18 Jahre nach Vanessas Verschwinden auf Spurensuche in seine Familiengeschichte und versucht, die Beweggründe seiner Familie zu verstehen und seine Schwester wiederzufinden."
Im Pressemailing informierte die Saarland Medien GmbH zudem, dass Philipp Lippert 15.000 Euro Produktionsförderung für „Kurzzeitschwester" zugesprochen worden waren. 40 Projekte hatten sich im Jahr 2020 bei Saarland Medien um eine Filmförderung beworben, acht wurden ausgewählt. Über die ebenfalls geförderte Dokumentation „Eine jüdische Biografie – Richard Bermann erinnert sich" berichteten wir in der FORUM-Ausgabe 22.
Gefördert durch Saarland Medien
Philipp Lippert studierte Screen Documentary an der Goldsmiths, University of London. Deshalb, weil, wie er sagt: „London eine coole Stadt ist", aber auch weil „Englands Filmlandschaft bekannt ist". Obendrein wollte er ohnehin eine Zeit lang ins Ausland. Der 24-Jährige ist in Fürth geboren und im Saarland aufgewachsen. Eine 20-Minutenfassung von „Kurzzeitschwester" war sein Master-Abschlussfilm. Davor sammelte er in vielen Bereichen Erfahrung. Bereits als 18-Jähriger absolvierte er beim Zweiten Deutschen Fernsehen ein Praktikum und hospitierte in der TV-Nachrichten-Redaktion beim Saarländischen Rundfunk. Mehrere Jahre war er für diverse Radiosender in Nordrhein-Westfalen als Reporter unterwegs. An der Technischen Universität Dortmund beendete er das Journalistik-Studium mit dem Bachelor. Als Freier TV-Journalist war er in Lyon tätig. Er arbeitet für das ZDF-Auslandsstudio in London als Producer – im Sommer wird er wieder nach Deutschland zurückkehren.
Aus der 20-Minuten-Fassung konnte Lippert eine Miniserie entwickeln, und dass diese den Weg ins Fernsehen fand, ist bemerkenswert. Wer einen Abschlussfilm an einer Filmhochschule gedreht hat, reicht im nächsten Schritt zumeist seinen Film bei Festivaljurys ein, um bei einer Annahme ein größeres Publikum zu erreichen. Es kann auch anders gehen. Die dreiteilige Dokumentation „Kurzzeitschwester" wurde – beauftragt vom NDR und durch die Drive Beta GmbH produziert – am 1. Juni als Deutsche Erstausstrahlung vom NDR gesendet. Redakteur Florian Müller beschreibt diesen Weg: „Uns hat der Vorschlag im vergangenen Herbst erreicht. Wir waren sogleich überzeugt von der skizzierten Umsetzungsidee und dem großen Thema hinter der aufwühlenden persönlichen Geschichte. Wir entwickeln in unserer Redaktion Spin – das steht für Schwerpunkte, Planung, Innovation nonlinear – Stoffe für junge Zielgruppen in der ARD-Mediathek. Da hat uns der Ansatz mit einer jungen Reporterfigur sehr gut gefallen. Wir sehen es darüber hinaus als unsere Aufgabe, junge Talente zu entdecken und zu fördern. Das hat sich auch in diesem Fall sehr bewährt."
Die Online-Premiere fand am 27. April statt, die Doku „Kurzzeitschwester" befindet sich weiterhin in der ARD-Mediathek. Die Kinopremiere im Kino Achteinhalb in Saarbrücken steht bevor.
Einfach weg, einfach verschwunden
„Kurzzeitschwester", die Dokumentation in drei Teilen – „Der Wunsch", „Die Entscheidung", „Das Wiedersehen" – ist ein emotionaler Parforceritt. Eine emotionale Achterbahnfahrt – mit Tränen. Familiengeheimnisse werden normalerweise gehütet. In manchen Familien werden keine Geheimnisse gehütet, weil sie ohnehin jeder kennt. In beiden Konstellationen wird geschwiegen. Die „junge Reporterfigur", die NDR-Redakteur Florian Müller apostrophiert, ist Philipp Lippert selbst. Er begibt sich auf die Suche nach Vanessa und durchbricht das Schweigen seiner Familie. Vanessa ist für Lippert als Schwester im Gedächtnis geblieben, die irgendwann einfach weg, einfach verschwunden war. Das kleine blonde Mädchen ist im ersten und zweiten Teil des Films auf Fotos und in Filmschnipseln zu sehen, die vom Keller bis zum Dachboden gesucht und ausgegraben wurden. „Hier ist nichts" tönt es einmal aus dem Keller, „Schade", antwortet Philipp Lippert.
Das Kleinkind Vanessa, das aussieht, als sei es aus einem Bilderbuch entsprungen, wird als Pflegekind der Lipperts angenommen und bildet mit dem älteren Philipp und den Eltern gleichsam eine Heile-Welt-Familie. Die Pflegemutter fühlte sich jedoch irgendwann überfordert. Vanessa musste die Familie verlassen. Die Mutter spricht gleich zu Anfang einen entscheidenden Satz: „Vielleicht kann man manche Dinge auch nicht erklären, wenn man es selber nicht erlebt hat." Trotzdem ist sie bereit, dem Sohn Auskunft zu geben, stellt sich sogar für das Filmprojekt zur Verfügung, ebenso wie der Vater und die Großeltern. Der filmische Tabubruch, oder vielmehr, was sich damals in der Familie abgespielt hat, habe „Wunden hinterlassen, auch in der gesamten Familie", offenbart der Vater. Er war es, der Vanessa damals weggebracht hatte. Ein Teletubby war im Saarland vergessen worden, wochenlang habe sie noch gewartet, der Nicht-mehr-Vater bringe es noch, wie er versprochen hatte, erzählt die schöne junge Studentin Vanessa in Teil drei, „Das Wiedersehen".
Vorstellungen vom eigenen Leben, Schicksalsschläge, das angestrebte Ideal einer Familie, Anforderungen als Mutter, Rollenverständnisse in einer Ehe: All diese Themen berührt der Dokumentarfilm „Kurzzeitschwester". Genau das war es auch, was dem Regisseur wichtig war, „aus dem Persönlichen rauszuzoomen, universelle Themen, auch Traumata, zu behandeln", weil „sich viele Menschen darin wiederfinden können, weil sie etwas von ihrem Leben übertragen können", beschreibt Philipp Lippert seine Intention.
Familie ist Schicksal. Die gute Nachricht: Leben ist das, was man daraus macht.