Die Luft Berlins ist weltbekannt, für seine von 1.000 Brücken überspannten Gewässer gilt das weniger – obwohl sie es verdient hätten. Ein Trip mit dem Hausboot von Wildau durch neues Tesla-Land.
Diesen Törn hatten wir so gar nicht vor. Wir wollten weg von der Stadt. In die brandenburgische Einsamkeit, auf dem Wasserweg bis zum Spreewald. Nicht, um sich noch mehr sozial zu distanzieren. Vielleicht zwar schon ein bisschen geschlaucht von Corona-Zwängen wie Homeoffice und Homeschooling, aber doch einfach nur urlaubsreif. Und voller Vorfreude. Dann wurden unsere Pläne durchkreuzt – was den Trip wohl nur umso ereignisreicher machen sollte. An der Schleuse Neue Mühle in Königs-Wusterhausen werde gebaut, sie sei außer Betrieb, weiter nach Süden gehe es ab dort nicht, sagt René Lohr bei der Bootseinweisung. Am Anleger in Wildau südlich von Berlin, wo die Reise startet, liegen vertäut die Hausboote. Der Mitarbeiter von Nautilus Hausbootcharter erklärt gerade die wichtigsten Verkehrsregeln auf dem Wasser, das Ankern, die Bordtechnik, wie auf der Stelle gewendet werde. „Und holt bei Wind die Liegestühle von der Dachterrasse, wir haben dieses Jahr schon einige verloren." Doch jetzt sind die Gesichter der Gäste erst mal lang. Nicht nur wir als Familie müssen wegen der Schleusensperrung eine Alternativroute finden, sondern auch die anderen vier Gruppen, die einschiffen wollen.
„Fahren Sie doch Richtung Möllensee", schlägt Lohr vor. Auch dort, im Osten der Hauptstadt warte Natur. „Oder Sie fahren nach Berlin rein." Immerhin bis zur Oberbaumbrücke dürfe man mit dem Hausboot ohne Funk-Equipment schippern. Und über den Großen Müggelsee. Wir sind unentschieden. Fünf Tage an Bord, vielleicht vier oder fünf Knoten gemütlich „schnell", das müsste für eine Kombination von allem hinhauen.
Die Sonne senkt sich, als die Einweisung durch ist. Sollen wir die Nacht in der Marina verbringen oder losfahren, obwohl es nur noch eine halbe Stunde lang hell genug ist? Das Votum der beiden Söhne ist eindeutig, Mama und Papa sind einverstanden, und so schippern wir kurz darauf in die Abenddämmerung.
Wie von René Lohr gelernt, schalten wir am Steuerpult das Positionslicht an. Auch rechts und links des schmalen Sellenzugsees, den wir mit unseren 15 PS gemächlich durchschneiden, glimmen vereinzelt Lichter. „Man sieht den Motor nicht mehr", bemerkt Adrian. Unser Jüngster, sieben Jahre alt, schaut aufs Display der Rückfahrkamera, auf der eben das Bootsheck noch zu sehen war. Doch jetzt ist der kleine Bildschirm an der Decke über dem Steuer pixelig-schwarz. Noch einen Schwenk zum Großen Zug machen wir, Teil der Wernsdorfer Seenkette, wo wir in einer Bucht ankern und bald darauf eine heiße Hühnersuppe schlürfen. Das „Wohnzimmer" der „Waikiki2 ist mit einem zweiflammigen Gaskochfeld ausgestattet, einem Kühlschrank, Tisch und Stühlen, einem Ausziehsofa und: rundum verglast. In der Dunkelheit wandelt sich der Salon zu einem Spiegelkabinett, und wir können uns beim Abendessen selbst zusehen. Im Bullauge der Schlafkoje sehe ich später ein Lagerfeuer am Ufer hin- und herwandern, offenbar sitzt der Anker fest. Schließlich haben wir, wie gelernt, auch das Fünf- bis Siebenfache an Seil hinterher gelassen.
Es gibt auch ein Ausziehsofa
Der nächste Morgen birgt einen Naturflash – dabei sind wir noch innerhalb von Berlins Autobahnring. Es sind drei Grad als ich um sieben auf die Bugterrasse trete und mein Atem dampft. Eine hauchdünne Wattedecke schwebt über dem Wasser, durch die Lichtblitze schießen, als sich die Sonne über den baum-, aber kaum hausbestandenen Ufersaum hievt. Das filigrane Nebelschauspiel wird sich mit steigenden Temperaturen bald selbst in Luft aufgelöst haben, da tönt es von innen ohne vorangegangenes „Guten Morgen": „Fahr’ los, Papa!"
Aye, aye, Sir! Schnell noch einen Kaffee geschlürft, und kurz darauf tuckert die „Waikiki" über den Krossinsee, an dem der Ort mit dem kuriosen Namen Ziegenhals liegt, mit dem aber eine traurige Geschichte verbunden ist. 1933 wurde hier Ernst Thälmann von den Nazis verhaftet, später starb der KPD-Vorsitzende im KZ Buchenwald. Zu DDR-Zeiten verbrachten FDJ-ler Ferien am See, in dem alten Offiziersheim soll auch Honecker öfters zu Gast gewesen sein.
Ein schwarzer Vogel landet auf dem Wasser, taucht unter, bleibt weg. „Wie lang’ kann der bitte die Luft anhalten!" Adrian ist begeistert, während Jakob, der Elfjährige, unter Aufsicht des Papas das Boot wacker auf Kurs hält. Dann ploppt der Vogel vor uns wieder auf, ohne dass er erkennbar Beute gemacht hätte. Das gelingt zwei Anglern, einige Seen und Kanäle später. Wir unterqueren die A 10, kommen durch Fangschleuse, ein Ort an der Löcknitz, der sich zum Werlsee öffnet, wo wir kurz vor Grünheide nicht schlecht staunen.
Genau in dem Moment, als wir an dem Boot der Angler vorbeigleiten, zieht einer der Männer einen Hecht aus dem Wasser. Das rund einen Meter lange Tier windet sich mit heftigen Zuckungen, aber sie bekommen es an Bord. Kein alltäglicher Fang. Ob das neue Tesla-Werk, dessen Gelände am Bahnhof Fangschleuse grenzt – und als künftig Europas größte Autofabrik ebenfalls wahrlich nichts Alltägliches bedeutet –,
der große Fang für die Gegend ist, muss sich dagegen noch herausstellen. Längst explodieren die Mieten und Immobilienpreise in der Gegend. Zudem gibt es Bedenken, wie umweltverträglich es sein kann, wenn vor Ort auch die weltgrößte Batteriezellenfabrik entsteht. Chancen für die Wirtschaft sind da, aber ganz in der Nähe liegt auch das Naturschutzgebiet Löcknitztal.
Ein wallender Schilfgürtel zur Linken, weiter um uns ein Uferoval aus dunklem Grün, unter uns das Abbild von Wolken und Blau, das wir erneut durchschneiden, dann aber den Motor ausschalten und aufstoppen, bis die Bläschen auf dem Wasser neben uns anhalten: Wir sind im Möllensee angekommen, Sackgasse und Wendepunkt unserer Tour. Der letzte Winkel der Seenkette, keine zehn Kilometer jenseits der Stadtgrenze Berlins wirkt seltsam abgeschieden. Außer uns hat sich nur ein Boot hierher verirrt, was im Sommer freilich anders aussieht. Obwohl die Gewässerkarte am Südufer ein Straßennetz zeigt, Industrie und Campingplätze, scheint die Zivilisation weit weg. Über dem Möllensee haben sich wahre Wolkengebirge aufgetürmt, denen die Sonne gleißende Ränder verleiht.
Die Wasserstraßen sind reizvoll
Der nächste Tag ist erkenntisreich und bringt Fahrstress, obwohl auch auf der Müggelspree, die uns nach Berlin leitet, nicht gerade der Bär steppt. Die Lektion: Die Stimmung an Bord hat sich, sagen wir, ein bisschen hochgeschaukelt. Obwohl unsere „Waikiki" recht geräumig ist, droht Bootskoller in der trockenen Heizungsluft. Die Kinder sind nölig, die Eltern auch. Anders als im Hochsommer kann man nicht mal eben zur Erfrischung ins Wasser springen, die Badeleiter bleibt während Nebensaisonfahrten wie unserer hochgeklappt. Eher streiten wir darüber, ob es beim Lüften nicht zu kalt wird. Ich trete auf die Terrasse, halte die nackten Füße ins Wasser, das hilft. Und ist wie kneippen, also toll.
Überhaupt sollten wir uns mal die Beine vertreten, findet auch die Mama. Passenderweise müssen wir anlegen, um Landstrom zu laden. Unseren Halt planen wir am Wassersportzentrum Köpenick. Doch vorher kommt Stress auf. Ich habe die Karte falsch gedeutet, und einen Abzweig von der Müggelspree nach rechts genommen. „Sieht man doch, kommense nicht durch", ruft eine Frau vom Ufer, die gerade im Garten wurschtelt. „Das ist das Gebiet von Neu Venedig, allet Brücken hier. Da komm ich mit meinem Boot hier gerade so durch", pflichtet der Mann neben ihr bei und zeigt auf ein flaches Sportboot. Bevor der Kanal sich verengt, leite ich mit weichen Beinen ein Wendemanöver ein, wie wir es bei der Einweisung kurz geübt haben. Zum Glück bleibt die gegenüber parkende Jacht verschont.
Es geht über den Großen Müggelsee, der in einer Fahrrinne mit Motorbooten überquert werden darf. Die Mutter hat das Steuer übernommen: „Auf so ’nem großen See zu fahren, ist nicht so schön." Ich stimme zu, denn die schmalen Wasserstraßen, wo wir SUP-Fahrern in Neopren oder wetterfesten Angelsportlern mit halben Schlauchbooten und Taucherflossen begegnen, wo man Berlin aus ungewohnter Perspektive vom Wasser aus begutachten kann, sind reizvoller. Abgesehen von Problemen wie eben, in die man sich aber selbst manövriert.
Da geben die Optimisten, die am westlichen Seeausgang in ihren kleinen Nussschalen das Kreuzen üben, schon ein besseres Bild ab. Unbemerkt gleiten wir über den Spreetunnel Friedrichshagen, der die Müggelspree unterquert, vorbei am imposanten Gebäude der Brauerei Berliner Bürgerbräu, einst Berlins älteste Brauerei, in der DDR ein VEB, seit 2010 dicht. Gegen Mittag dümpelt die „Waikiki" angebunden unter einem Schild mit gelber Welle, dem Erkennungszeichen, dass Wassertouristen wie wir anlegen dürfen. Es wurde vom Tourismusverein Treptow-Köpenick vor rund 20 Jahren entwickelt und ist mittlerweile bundesweit im Einsatz. Nicht ganz so erfolgreich: unser erstes außerbootshäusiges Mahl; das Essen im nahen kroatischen Restaurant schmeckt nicht.
Es wird urban: Wir cruisen entlang von Wohntürmen, längst sind die Datschen, sind die bis an die Uferbefestigungen gepflegten Wasserparzellen Betonmauern, Industriearchitektur aus der Gründerzeit oder Futterhaus und Bauhaus und riesigen Straßenbrücken gewichen, über die Autoschlangen und Trams kriechen, kaum schneller als wir, ein paar Meter tiefer. Und die Kinder haben einen neuen Spaß entdeckt: von der Dachterrasse aus die Hände nach den Brücken ausstrecken, aber vergebens. Fun Fact: Berlin hat mit knapp 1.000 Brücken mehr als doppelt so viel wie die Lagunenstadt Venedig.
Dann tuckert die „Waikiki" mit der Familie an Bord einer Art Mole entgegen. Wir gleiten durch die Öffnung einer Mauer, die sich von rechts nach links durchs Wasser zieht: Willkommen in der Rummelsburger Bucht. Längst ist die Halbinsel Stralau Backbord zu einer exklusiven Wohngegend geworden, doch wir sind in einer Parrallelwelt angekommen, der sogenannten Spree:publik.
In der Bucht ankern ältere Hausboote, die nach Dauerbewohnung aussehen, weil sie nicht alleine daliegen, sondern im Pulk mit anderen, mal kleineren, mal größeren Kähnen, oder Holzhütten auf Schwimmern. Es ist schon fast dunkel, als Adrian sein Bötchen ins Wasser plitschen und mit der Fernbedienung einige Kreise ziehen lässt. Vom Nachbarboot winkt jemand. Noch am späten Abend sind Motorgeräusche von Außenbordern zu hören. Die Spree:publik setzt sich, so lese ich, auf ihrer Website, „für die Demokratisierung der Wasser- und angrenzenden Uferflächen Berlins" ein. Es gehe um Wasserflächen „als soziokulturelle Ressource". Faktisch leben hier mitten in Berlin unweit des Ostbahnhofes Menschen, ganze Familien, auf Hausbooten, teils seit Jahren.
Die Kinder packen mit an
Für uns gilt ein anderer Zeithorizont. Wir müssen zurück nach Wildau, unsere lieb gewonnene „Waikiki" bald wieder abgeben. Wir rechnen in Tagen, nicht in Jahren. Der Morgen hält abermals magisches Wetter bereit. Im sonnengetränkten Nebel steht das Vattenfall-Heizkraftwerk wie ein Scherenschnitt vor uns, das sein schattiges Spiegelbild ins Wasser wirft, die Kinder zerren den mit schwarzem Schlick beschmierten Anker empor. Später im Gegenlicht erscheint auch die Altstadt Köpenicks. Ich habe die Kapitänsbinde abgegeben und genieße im Liegestuhl auf dem Vorderdeck die Sonne, unter dem Boot gluckst das Fahrwasser. Vor der Langen Brücke stoppen wir, um das bekannte Rathaus mal von der Dahme aus zu betrachten. Da ertönt ein tiefes Schiffshorn, ein Lastkahn möchte durch. „Jetzt aber schnell zur Seite", ruft uns ein Angler aus einem Ruderboot zu. Wie sagte noch Lohr? „Die haben einen Bremsweg von 800 Metern." Wir handeln.
Letzte Zwischenstation „Schmetterlingshorst": Wir legen unter einer Gelben Welle gegenüber dem Strandbad Grünau an. Hier baute der Schmetterlingssammler Johannes Bittner gegen Ende des 19. Jahrhunderts einen der größten Biergärten Berlins auf, 3.000 Leute fanden im Freien Platz. Es war ein Ort gepflegter gesellschaftlicher Zusammenkünfte, das im Krieg zerbombte Ausflugslokal wurde später wieder aufgebaut. Heute wird von der Küchenluke aus Soljanka und Eis verkauft. Auch eine Schmetterlingssammlung gibt es wieder zu sehen. Wir spielen Riesenschach, Tischtennis und Tischkicker zwischen Biertischen und Plastikstühlen. Ein toller Landgang. Es sind Pausen wie solche, die es braucht auf einer Familientour im Hausboot in der Nebensaison, wenn es an Auslauf schon mal mangeln kann.
Wie zum Gegenprogramm sorgt die Natur am letzten Tag für ordentlich Bewegung. Die Dahme ist unruhig, und wir sind uns unsicher, ob wir unsere „Waikiki" noch bewegen dürfen. Bei mehr als drei Windstärken (13 km/h) sei dies aus versicherungstechnischen Gründen untersagt, hieß es. Ein Anruf bei der Nautilus-Hotline bringt Gewissheit: Wir sollten wieder anlegen. Zum Glück ist es bis zu Basis in Wildau nicht mehr weit. Das Anlagemanöver gelingt, die Familiencrew springt auf den Anleger und zerrt die „Waikiki" an den Seilen die letzten Meter behutsam in die Lücke.