Warum wird der Mensch gewalttätig? Ist es gar möglich, dass wir bereits „schlecht" zur Welt kommen? Psychiater und Neurowissenschaftler finden Antworten in den Gehirnen von Tätern.
Lizzy Bordon took an axe and gave her mother fourty whacks. When she saw what she had done she gave her father forty-one." Die Geschichte von Lizzy Bordon, die beide Elternteile mit einem Beil ermordete haben soll, kennt in den Vereinigten Staaten von Amerika jedes Kind. Ihr Fall gilt als einer der bekanntesten in der US-Kriminalgeschichte. Am 4. August 1892 wurden in der Textilfabrikstadt Fall River, rund 60 Kilometer südlich von Boston, zwei Einwohner tot aufgefunden. Die 64-jährige Abby Borden lag im Gästezimmer ihres Hauses, 19 Hiebe mit einem Beil wurden auf ihrem Rücken festgestellt. Ihren Ehemann, den 69-jährigen Andrew Borden, fand man im Erdgeschoss. Auch er wurde mit einem Beil oder einer Axt ermordet, 29 Mal hatte der Mörder zugeschlagen. Am helllichten Tag wurden die Morde begangen, Andrew Borden, so vermuteten die Ermittler, machte gerade Mittagsschlaf, als ihn das Beil traf.
Die Polizei konnte binnen Stunden einen Verdächtigen, einen „Ausländer" festnehmen, doch der portugiesische Einwanderer erwies sich als unschuldig. Auf dem Anwesen befanden sich zum Tatzeitpunkt das Dienstmädchen Bridget Sullivan und Lizzie Borden. Sullivan gab bei der Polizei an, dass sie zum Tatzeitpunkt in ihrem Zimmer geschlafen habe, weil sie sich unwohl fühlte. Auch schien sie keinen Grund gehabt zu haben, ihre Arbeitgeber zu ermorden. Lizzie Borden, damals 32 Jahre alt und unverheiratet, hatte hingegen ein Motiv, und ihre Aussagen waren zum Teil widersprüchlich. Dennoch trauten viele der jungen Frau, die Sonntagsschullehrerin in einer Kirchengemeinde war, keinen Mord zu. Die Mordermittlungen sowie die Umstände des Verfahrens erweckten damals großes mediales Interesse. Lizzie Bordon erkaufte sich eine hervorragende Verteidigung und wurde letztendlich frei gesprochen. Der tatsächliche Tathergang ist bis heute ungeklärt.
Eine Frage aber blieb: Ist die junge Frau, die als Sonntagsschullehrerin arbeitet, zu einem brutalen und kaltblütigen Mord und dessen Vertuschung fähig? Was bringt den Menschen dazu, Verbrechen zu begehen? Psychiater und Neurowissenschaftler suchen Antworten auf diese Fragen im menschlichen Gehirn. Einer, der sich besonders gut auskennt, ist der US-Psychiater James Fallon. Er gilt als Spezialist für die Gehirne von Serienkillern, brutalen Vergewaltigern und gefährlichen Psychopathen. Seit Ende der 70er-Jahre arbeitet er an der University of California, Irvine. Jahrelang hat er als Professor unterrichtet, mittlerweile ist er 73 Jahre alt und konzentriert sich ausschließlich auf seine Forschung. Seit über 30 Jahren befasst er sich mit den Gehirnen von Schwerverbrechern und stellte dabei fest: Es gibt Unterschiede zwischen Menschen, die Verbrechen begehen und jenen, die das nicht tun.
Persönlichkeit und Emotionen sitzen im Frontallappen
Die Verbrecher hatten Gehirne von Psychopathen. Bereiche, die für Einfühlungsvermögen, Schuldbewusstsein und Angstempfinden zuständig sind, waren in ihren Köpfen schlechter durchblutet oder geringer ausgeprägt als bei anderen. Dadurch empfanden sie wenig oder gar keinen emotionalen Stress und konnten die Gefühle anderer nicht nachvollziehen. Veränderte Bereiche fanden sich etwa im sogenannten Frontallappen, das ist der Teil des Gehirns, der hinter unserer Stirn liegt, und in Bereichen des Schläfenlappens. Der Schläfenlappen geht zum Hinterhaupt und zum Scheitel hin ohne scharfe Grenze in Parietal- und Okzipitallappen über. Vom Frontallappen ist er durch eine tiefe Furche getrennt.
Der Frontallappen übernimmt wichtige Aufgaben wie die Steuerung der motorischen Funktionen und Emotionen. Er gilt als Sitz der Persönlichkeit und des Selbstbewusstseins. Seine vielfältigen Funktionen führen dazu, dass Erkrankungen oder Beschwerden des Frontallappens sich schnell auf die Psyche des Betroffenen auswirken. So ist etwa der orbitofrontale Cortex, das Großhirnrindengebiet des Menschen, das sich direkt über der Augenhöhle vorne im Schädel befindet, der Sitz der ethischen Empfindung und spielt eine wichtige Rolle beim Korrigieren der Bewertung emotionaler Stimuli. Verletzungen dieses Areals führen zu Veränderungen in der Persönlichkeit und im Charakter, wie etwa Verarmung des Gemüts, Gleichgültigkeit, vermindertem Antrieb und Schamlosigkeit.
Der Schläfenlappen ist nach dem Frontallappen der zweitgrößte Lappen des Großhirns. So sind in ihm wichtige Gedächtnisstrukturen, das Wernicke-Sprachzentrum sowie das primäre Hörzentrum enthalten. Ein Teil des Schläfenlappens ist beispielsweise auch die Amygdala. Die Amygdala ist eine zentrale Verarbeitungsstation für externe Impulse und deren vegetative Auswirkungen, sie ist für die emotionale Einfärbung von Informationen zuständig. Störungen können etwa zu einem Verlust von Furcht und Aggression führen.
Verbrecher sollen als psychisch Schwerkranke gelten
Fallon schlussfolgerte aus diesen Erkenntnissen: Wer sich nicht in andere hineinversetzen kann, hat keine Skrupel, ihnen Gewalt anzutun. Wer keine Schuldgefühle kennt, versteht nicht, warum eine Tat nicht rechtens ist. Für wen Angst ein Fremdwort ist, der tut, ohne nachzudenken, Dinge, die für ihn und andere lebensgefährlich sein können. Fallon glaubte, dass nicht der Mensch entscheidet, ob er zum Verbrecher wird, sondern die Natur es schon vor seiner Geburt bestimmt. Ähnlich äußerten sich auch zahlreiche weitere Experten, wie etwa der deutsche Neurobiologe und Hirnforscher Gerhard Roth. Roth hat unter anderem das Buch „Wie das Gehirn die Seele macht" geschrieben und glaubt, dass das menschliche Gehirn die Quelle des Bösen ist. Ob ein Mensch zu Gewalt und Straftaten neige, hänge vor allem von der genetischen Veranlagung ab sowie von Eigenheiten der Hirnentwicklung und der Erziehung im frühen Kindesalter. Der „Welt" sagte Roth: „Das Gehirn ist offen für alle Erfahrungen und bildet Netzwerke angehäufter Nervenzellen, die im Kampf gegeneinander eher moralische Motive befürworten oder nicht." Verbrecher seien demnach nicht mehr als individuell Schuldige, sondern als psychisch Schwerkranke zu behandeln.
Andere Forscher hingegen vertreten die These, dass jeder Mensch mit den gleichen Voraussetzungen geboren wird und eben nicht von Geburt an feststeht, ob sich jemand zum Verbrecher entwickelt. Vielmehr gehen sie davon aus, dass sich Charakter und Verhaltensweisen erst durch sein soziales Umfeld herausbilden würden.
Seit Jahren streiten Forscher auch über den möglichen Zusammenhang von Hirnschäden und einer höheren Wahrscheinlichkeit, dass Menschen kriminell werden. Unter anderem haben sich Forscher der Havard Medical School und der University of Cambridge damit befasst und Fälle gefunden, in denen Menschen mit wachsendem Hirntumor anschließend zu Massenmördern wurden. Bei manchen Triebtätern wurden Hirnverletzungen festgestellt. Die Forscher wollten herausfinden, welche Regionen im Hirn dabei entscheidend sind. Ihr Ergebnis: Die sogenannten kriminellen Hirnschädigungen laufen in einem Netzwerk zusammen, das unsere moralischen Entscheidungen beurteilt. Bevor der Mensch eine Entscheidung trifft, prüft er, inwieweit diese mit seinen moralischen Grundprinzipien übereinstimmt. Ist dieser Bereich beschädigt, fällt die Prüfung aus und die Wahrscheinlichkeit für kriminelles Handeln steigt. Areale, in denen es um Mitgefühl geht, sind den Wissenschaftlern zufolge weniger betroffen. Der Neurowissenschaftler und Science Slammer erklärte das gegenüber dem „Deutschlandfunk" so: „Man könnte sagen, die Kriminellen können sich immer noch in andere hineinversetzen, aber es ist ihnen völlig egal – als hätte jemand deren kriminelle Handbremse gelöst." Das Interessante dabei war, das ganz unterschiedliche Hirnschädigungen zu solchen Phänomenen führen können.
James Fallon ließ Profil seiner eigenen Gene erstellen
Auch James Fallon befasste sich immer weiter mit unterschiedlichen Hirnaufnahmen, bis er eines Tages eine Entdeckung machte. Um der Frage nachzugehen, welche Veranlagungen im Gehirn zu Alzheimer führen, hatte er acht Hirn-Scans gesunder Menschen als Vergleichsgruppe unter die Aufnahmen gemischt. Mit dabei waren auch die Scans von ihm und seiner eigenen Familie, in der bislang noch niemand dement gewesen war. Bei der Durchsicht der Bilder, die alle mit Zahlencodes verschlüsselt waren, stieß er auf eine Aufnahme, die ihn an ein Gehirn von Gewaltverbrechern erinnerte. Er ging dem nach und fand hinter dem Nummerncode seinen eigenen Namen. Wie konnte das sein? Fallon – Ehemann, Familienvater und laut eigenen Angaben jemand, der sich nicht einmal auf dem Schulhof geprügelt hatte – der seit Jahren die Gehirne von Verbrechern analysierte, sollte nun feststellen, dass auch sein eigenes Gehirn dazuzählte? Nachforschungen in der Familie ergaben, dass die familiäre Historie tatsächlich voll war mit Gewalttätern. Immer wieder hatte es in seiner Familie Vorfahren gegeben, die Vater, Mutter oder ihren Partner getötet hatten. Und nicht nur das: Auch die im ganzen Land bekannte Lizzie Borden zählt zu seinen Vorfahren. Fallon ließ daraufhin ein Profil seiner Gene erstellen, das zeigte, dass er von Natur aus einen Hang zu gewalttätigem, impulsivem, wenig einfühlsamem und risikoreichem Verhalten hatte. Schnell wurde ihm klar, dass seine Theorie, dass nur Natur und Veranlagung darüber entscheiden, wer zum Verbrecher wird, nicht haltbar war. Es musste etwas geben, das dafür gesorgt hatte, dass er trotz seiner Veranlagung keine Verbrechen begangen hat. In Gesprächen mit seinem Umfeld machte ihn insbesondere eine Erzählung seiner Mutter nachdenklich. Sie berichtete, dass Fallon als Jugendlicher eine Phase hatte, in der er mit niemandem sprach. Weil sie fürchtete, dass der Junge depressiv würde, brachte sie ihn zur Aktivität: Schwimmen, Football, Ski fahren, Theaterclub, Band und Schülervertretung bestimmten von da an seinen Alltag. Heute glaubt Fallon, seine Mutter habe instinktiv genau das Richtige getan. Denn aus den Informationen, die er über die Gewaltverbrecher hatte, ging auch hervor, dass sie schon früh Gewalt in ihrem Umfeld erlebt hatten.
Er ist deshalb sicher, dass nicht Veranlagung alleine, sondern auch das soziale Umfeld dafür verantwortlich ist, wie sich ein Mensch entwickelt. Über seine Erfahrungen hat er das Buch „The Psychopath Inside" geschrieben. Dass seine Geschichte bislang so gut ausgegangen ist, schütze ihn nicht per se. Wenn sein soziales und berufliches Umfeld wegbrechen würde, so glaubt er, könne sich auch bei ihm die Veranlagung durchsetzen.