Bis jetzt ist die große Insolvenzwelle ausgeblieben. Dafür erwarten Experten nun verstärkt private Pleiten – Folgen der Gesetzesänderungen, die zur Bewältigung der Krise verabschiedet wurden.
Die deutsche Wirtschaft hat deutlich unter der Corona-Pandemie gelitten. Und dennoch: Das Land kann aufatmen. Die Gefahr der Unternehmensinsolvenzen ist vorbei – oder etwa nicht? Nach einer aktuellen Studie des Inkasso-Unternehmens Creditreform gehen die Unternehmensinsolvenzen weiter zurück. Der Grund: Noch immer verzerren die Überbrückungshilfen der Bundesregierung aus dem Corona-Hilfsfonds die Zahlen. Im ersten Halbjahr 2021 waren 8.800 Unternehmensinsolvenzen zu verzeichnen – ein Rückgang um 1,7 Prozent gegenüber dem Vorjahreszeitraum (erstes Halbjahr 2020: 8.950). Grund ist die Aussetzung der Insolvenzantragspflicht, die bis zum April galt. Vor allem Kleinstunternehmen aus Handel und Dienstleistung gehören zu den großen Verlierern, hier stieg die Zahl an Insolvenzen in diesem Jahr deutlich an. Baugewerbe und verarbeitendes Gewerbe jedoch zeigen deutlich, dass sie mithilfe des Kurzarbeitergeldes und der Überbrückungshilfen besser durch die Krise kamen. Vor allem das Baugewerbe kam vergleichsweise gut durch die Zeit der Pandemie, auch wenn sich die Stimmung in der Branche derzeit durch die explodierenden Preise für Roh- und Baustoffe eintrübt.
Gesetze verzerren die Zahlen
Christian Niering ist Anwalt und Chef des Verbandes der Insolvenzverwalter in Deutschland. Er erwartet nach aktuellem Stand der Dinge keine große Insolvenzwelle. „Was den Stand der Rechte und Pflichten eines insolventen Unternehmens angeht, sind wir nach Auslaufen der coronabedingten Insolvenzgesetze im April nun wieder weitgehend im Normalzustand", so Niering im Gespräch mit FORUM. „Nach wie vor haben wir jedoch ein staatlich gelenktes Insolvenzgeschehen, beginnend beim Kurzarbeitergeld, den Finanzhilfen bis hin zur finanziellen Neustart-Unterstützung. In absoluten Zahlen sehen wir eine deutliche Zurückhaltung der institutionellen Gläubiger wie Finanzämter und Krankenkassen, die regelmäßig mit ihren Vollstreckungen und Insolvenzanträgen das Insolvenzgeschehen beeinflussen." Abzuwarten bleibe, wie stark der Staat weiterhin eingreifen wird. „Wir appellieren jedoch an die Bundesregierung, Unternehmenspleiten nicht um jeden Preis abzufedern", fordert der Anwalt. Insolvenzen gelten als wirtschaftliche „Reinigung". 2008, in der Finanzkrise, lag die Zahl der eröffneten Insolvenzverfahren mehr als doppelt so hoch wie heute, in einer Krise, die nicht nur Banken, sondern alle Branchen betrifft. Der Grund ist die breite Streuung der Hilfsgelder, die somit Unternehmen über Wasser halten, die auch ohne Einschränkungen durch eine Pandemie nicht mehr überlebensfähig wären. Niering erwartet daher einen Nachholeffekt bis ins Jahr 2022. „Wenn die Zahlen bis dahin bei rund 20.000 Verfahren lägen, wäre dies ein moderater Anstieg gegenüber den Vorjahren." Seit der Finanzkrise 2009 mit über 33.000 Unternehmensinsolvenzen hat die Zahl der Pleiten kontinuierlich abgenommen. Mit weniger als 19.000 Unternehmensinsolvenzen verzeichnete Deutschland im Jahr 2019 den bis dahin niedrigsten Stand seit Einführung der Insolvenzordnung.
Dagegen steigt die Zahl der privat Zahlungsunfähigen, nach Angaben der Wirtschaftsauskunftei Crifbürgel von 20.328 im ersten Quartal 2020 auf 31.821 Fälle im ersten Quartal 2021. Das geht aus dem Schuldenbarometer des ersten Quartals der Auskunftei hervor. Zehn Jahre lang war die Zahl der privaten Insolvenzen zuvor gefallen.
„Der deutliche Anstieg an Insolvenzen ist derzeit vor allem darauf zurückzuführen, dass viele Privatpersonen letztes Jahr entsprechende Anträge zurückgehalten haben. Sie wollten von einer Gesetzesreform profitieren, die Betroffenen von Privatinsolvenzen künftig, statt wie bisher nach sechs, schon nach drei Jahren eine Restschuldbefreiung ermöglicht. Da diese Reform ein großer Vorteil ist, haben viele Antragssteller auf den entsprechenden Beschluss des Bundestages gewartet", erklärt Frank Schlein, Geschäftsführer von Crifbürgel, in einem Statement. Ähnliche Zahlen legt die Wirtschaftsauskunftei Creditreform in ihrem ersten Halbjahresbericht vor. Die verkürzte Restschuldbefreiung auf nur noch drei statt zuvor sechs Jahre, die im Dezember 2020 rückwirkend zum 1. Oktober des Jahres vom Bundestag beschlossen worden war, ist Teil des Konjunktur- und Krisenbewältigungspakets der Bundesregierung. Entsprechend werde eine Insolvenzwelle bis ins Jahr 2022 hineinreichen, so Schlein.
Laut Creditreform mussten im April 2021 16,4 Millionen Haushalte mit weniger Geld auskommen – wegen coronabedingter Arbeitslosigkeit, zum Beispiel im Niedriglohnsektor oder bei Soloselbstständigen oder Kurzarbeit. Dadurch kommt die Pleitewelle auch zunehmend in den mittleren Lohnbereichen an, die vor allem von Kurzarbeit in den vergangenen Monaten betroffen waren. Umfragen ergaben, dass vor allem die Preise für Elektrizität und Heizung die Sorgenfalten vieler deutscher Haushalte vertiefen. Nicht zu Unrecht. Denn die Teuerungsrate in Deutschland wird derzeit vor allem von höheren Energiepreisen getrieben.
Weniger Geld in der Tasche führt jedoch im Rekordsparland Deutschland auch zu verringerten Ausgaben. Die Deutschen sparen mittlerweile laut Statistischem Bundesamt 16 von 100 Euro – neuer Rekord. Dadurch liegen mittlerweile laut der Bundesbank sieben Billionen Euro auf den Sparkonten im Land. Nach der bundesweit repräsentativen Online-Umfrage von Creditreform wollen mehr als die Hälfte der befragten Haushalte davon weniger Geld ausgeben, vor allem für Freizeit, Urlaub und Bekleidung. Wieder keine guten Nachrichten für den Textil-Einzelhandel und die Tourismusbranche, die nach der harten Lockdown-Phase erneut auf einen Teil der Kunden verzichten müssen. Stattdessen fordern Verbraucherschützer, das Beratungsangebot angesichts einer wachsenden Zahl von Schuldnern auszubauen – am besten mit Rechtsanspruch.