Herman de Vries gilt als Ausnahmekünstler von internationalem Rang, schuf unter anderem Gemälde, Skulpturen und Installationen sowie Kunst im öffentlichen Raum. Ein Treffen mit dem mittlerweile 90-Jährigen in seinem Haus in Eschenau.
Gerade vor Kurzem, am 11. Juli, ist der aus den Niederlanden stammende und in Eschenau lebende Künstler Herman de Vries 90 Jahre alt geworden. De Vries ist Künstler von internationalem Rang. Er hat unter anderem 2015 auf der Biennale in Venedig den niederländischen Pavillon gestaltet. Noch bis 1. August läuft seine Einzelausstellung im Kasseler Museum für Sepulkralkultur mit Fragmenten über die Vergänglichkeit des Daseins. In den letzten Jahren haben Natur, Pflanzen, Steine, gefundene Objekte (objets trouvés) und Vergänglichkeit eine große Rolle in seinem Schaffen gespielt. Sammler und Liebhaber seiner Werke gibt es nicht nur in Deutschland. Auch in Italien, Japan, Bahrain und Holland gehört er zur Crème de la Crème der bedeutendsten lebenden Künstler.
Herman de Vries empfängt Besucher in seinem Haus in Eschenau am liebsten im liebevoll verwilderten Garten. Selbst gepflückte Himbeeren und Melissentee stehen auf dem verwitterten Holztisch. Zu seinen Füßen räkelt sich eine Katze, die „Kater" heißt.
Der nahe Steigerwald ist sein selbsternanntes Atelier
Auch an seinem Geburtstag hat er dieses liebgewonnene Ritual eingehalten: Mit wenigen guten Freunden bei einer Tasse Tee beisammensitzen. „Nichts Großes, ich mag die Ruhe", betont er. Die Pandemie hat er gut überstanden, regelmäßig eine Wanderung durch den nahen Steigerwald – seinem selbst ernannten Atelier – gemacht. Dabei ist er auf mehr Spaziergänger getroffen als vorher. „Die Menschen hatten Zeit und Muße, in die Natur zu gehen", sagt der Künstler. Auffallend sei, dass es heutzutage wieder mehr Schmetterlinge gebe als vor einigen Dekaden. De Vries ist ein sehr genauer Beobachter. Er erzählt von den kleinen Freuden des Alltags, wie sein ständiges Sammeln im Wald. „Totholz, das mit Hunderten von Insektenarten lebendig ist, zum Beispiel." Ausgestellt wird es zurzeit mit Tierknochen auf weißen Platten in der Kasseler Ausstellung.
Er blickt auf Kater und erinnert sich an den Vorgänger Willi, dem er im Sterben die grünen und blauen Fliegen vom Leib hielt. „Er war noch nicht tot, aber die Mücken kamen, um das Leben fortzusetzen." Aspekte der Vergangenheit finden sich wiederholt in seinem Schaffen, egal ob es um verwelkte Blätter eines Apfelbaums, fixiert auf weißem Papier, goldene Kleinbuchstaben auf Findlingen, verbrannte Holzkohle zum Schreiben oder die plastische Form von Steinen geht.
Seine ganz persönliche Ruhezeit und Inspiration findet er in der Natur, „in diesem fantastischen Laubwald", der gleich hinter dem Haus beginnt. Um dieses Element „als direkte Beziehung zum Raum" bedingungslos zu spüren, treffen Spaziergänger den in Alkmaar Geborenen schon mal splitterfasernackt im Wald an. De Vries lacht, als er von dem Inhalt eines an ihn gerichteten anonymen Briefes erzählt: „Wenn du das noch mal machst, kriegst du eine Ladung Schrot in den Hintern!" Passiert sei nichts, „doch meine Frau Susanne hat einen großen Schreck gekriegt."
Die Frankfurterin und Tochter eines Kollegen ist seine zweite Frau und lebt mit ihm seit Anfang der 70er-Jahre zusammen. Damals wollte sich de Vries eigentlich in den Weiten von Irland niederlassen, doch der Besuch bei einem befreundeten Bildhauer in Eschenau änderte plötzlich alles. „Ich fragte eine Bäuerin am Gartenzaun, ob ich hier eine Wohnung mieten könnte, und sie sagte ja. Eine Woche später war ich in Eschenau." Seitdem lebt er hier, der liebenswerte Einzelgänger, Menschenscheue und Waldschrat.
Mittlerweile hat er sein fünftes Domizil bezogen, ein altes Sandsteinhaus mitten im Ort. Ihm gefällt der schöne Dialekt der Steigerwald-Menschen, „obwohl ich am Anfang nichts verstanden habe!" Herman de Vries wird in seinem geliebten Dorf akzeptiert, respektiert und in Ruhe gelassen. „Das ist mir am wichtigsten. Ich weiß nicht, was die Leute über mich denken. Das ist mir auch egal." Weise Worte eines alten Mannes, der sein Refugium so beschreibt: „Holland ist mein Geburtsland, aber meine Heimat ist hier." Ein schöneres Kompliment an Land und Leute gibt es wohl kaum.
Bedauert den Wegfall der lokalen bäuerlichen Bevölkerung
Er bedauert den Wegfall der lokalen bäuerlichen Bevölkerung und damit auch ihrer Erfahrungen und Traditionen, die heute so wertvoll wären: „Früher lebten 16 Landwirte hier, heute sind es nur noch zwei." De Vries setzt auf Biolandwirtschaft für die Zukunft, „weg von den Giftspritzen und Pestiziden."
Der Bartträger schenkt sich Tee nach, denkt zurück an vergangene Zeiten und ist dankbar für ein reiches gelebtes Dasein. Er erzählt von der Lehre in der Gartenbauschule im nordholländischen Hoorn, vom Gesellenstück, nämlich der selbstangelegten Obstplantage mit Drainage und von der Zeit als Assistent am wissenschaftlichen Institut in Arnhem. Und von den Erinnerungen an frühere Winter im Süden, dem Unterwegssein auf dem Hippie-Trail nach Indien und der Rucksackreise durch Laos während des Vietnamkriegs.
Er weiß um die Vielseitigkeit seines Tuns auch im hohen Alter, wünscht sich noch ein paar gute aktive Jahre an der Seite seiner Frau, lobt sie als seine beste Kritikerin und bringt ihr eine ganz besondere Wertschätzung entgegen: „Wir essen und schlafen nicht nur zusammen, sondern wir denken auch zusammen."
Später, nach diesen aktiven Jahren, will er seinen Körper in Holland verbrennen lassen. Die Asche erhalten seine drei Kinder – der vierte Sohn ist vor ein paar Jahren verstorben. „Ich werde sie bitten, diese auf der Insel Gavdos südlich von Kreta zu verteilen. Auf dem Land, nicht auf dem Wasser. Und wenn das nicht möglich ist, wird der Steigerwald mein letzter Ruheplatz werden." Auf Gavdos sei er zweimal gewesen, 1978 und 2015. „Gern möchte ich dort noch einmal hin, aber das Reisen wird für mich immer beschwerlicher." Zwar sei die Insel recht langweilig, doch für ihn eine „wundervolle Erfahrung" gewesen. Herman de Vries plant eben gern, spricht über programmierte Zufälle, Methodik, systematisches Arbeiten und die Zeit nach dem Tod. Ganz wie sein Alter Ego als Naturkundler.