Der Westen verfolgte in Afghanistan von Anfang bis Ende die falschen Ziele.
Die Bilder von Kabul werden lange nachwirken. Es sind Aufnahmen von verzweifelten Menschen, die sich an den letzten Maschinen festklammern, die aus der afghanischen Hauptstadt fliegen. Doch bald nach dem Start stirbt die Hoffnung: Die Flüchtenden fallen vom Himmel. Die Angst vor der Herrschaft der radikalislamischen Taliban hat sie in diese grausame Notlage getrieben.
Viele befürchten, dass nun das islamische Mittelalter in den Hindukusch zurückkehrt. Im Westen ist das ein Albtraum-Szenario: Dann regieren wieder die strengen Gesetze der Scharia, einschließlich Todesstrafe. Die Schulen lehren Religion, aber keine Naturwissenschaften. Die immerhin in Ansätzen vorhandenen Rechte für Frauen und Mädchen verschwinden unter der Knute des Patriarchats. Die embryonalen Verbesserungen des täglichen Lebens, die die Bundeswehr und andere Militäreinheiten in Afghanistan geschaffen haben, sind dann verloren. Bildungsinstitutionen, Brunnen für die Dörfer – alles zerstört.
Was sich in diesen Tagen in Afghanistan abspielt, ist die komplette Kapitulation des Westens. Dass die afghanische Regierung innerhalb von Tagen zusammenfällt wie ein Kartenhaus, dass die zahlen- und rüstungsmäßig hoch überlegene Armee vor ein paar Zehntausend Gotteskriegern die Flucht ergreift, ist ein Desaster. Haben die Geheimdienste jahrelang hinter dem Mond gelebt? Sind die Expertenberichte an die Staats- und Regierungschefs zwischen Washington, Paris und Berlin das Papier nicht wert, auf dem sie gedruckt wurden? Wie steht es mit der Handlungsfähigkeit des Außenministers, der Verteidigungsministerin und letztlich der Bundeskanzlerin?
Angesichts der heutigen Zustände war die fast 20 Jahre lang andauernde Afghanistan-Operation des Westens von Beginn bis zum Ende ein kolossaler Fehlschlag. Ganz am Anfang gab es einen fatalen Mix aus falschen Erwartungen und Naivität. „Wir werden sie zur Strecke bringen, wir werden sie ausräuchern“, drohte US-Präsident George W. Bush den Terrorzellen von Al Kaida nach den Anschlägen vom 11. September 2001. Es war eine Kriegserklärung an die Dschihadisten, die die Supermacht Amerika durch Flugzeug-Attentate in New York und Washington ins Herz treffen wollten. Im Schatten der Taliban-Herrschaft hatten sie in Afghanistan Unterschlupf gefunden.
Bushs Militär-Intervention war zunächst ein Racheakt gegen Al Kaida und ihren Kopf Osama bin Laden. Er konnte damit seinen Nimbus als Anti-Terror-Präsident zementieren. Die Nato rief erstmals in ihrer Geschichte den Bündnisfall aus und schickte ebenfalls Truppen in die Krisenregion. Danach kam jedoch die Illusion, das in viele Stammes- und Clangebiete zerklüftete Land per Knopfdruck demokratisieren zu können.
Vor allem die Amerikaner gingen Bündnisse mit berüchtigten Warlords wie Abdul Raschid Dostum ein – in der trügerischen Hoffnung, eine stabile Regierung und rechtsstaatliche Strukturen in Afghanistan zu installieren. Doch Schaukelpolitiker wie Dostum wirtschafteten in die eigene Tasche. Die politische Spitze in Kabul war von Tag eins an zerstritten, korrupt und ohne Autorität im Land.
Das ist der tiefere Grund, warum die Bevölkerung zu allen vom Westen nach 2001 gestützten Regierungen nicht loyal war. Generäle strichen die Gehälter von Soldaten ein, die gar nicht existierten. Die Truppe wurde hingegen mit mickrigen Gehältern abgespeist. Deswegen der nicht vorhandene Widerstand gegen die Taliban. Der von US-Präsident Joe Biden völlig überhastete Abzug des amerikanischen Militärs ist nur der Endpunkt einer langen Kette von Fehlkalkulationen. Das Afghanistan, das der Westen aufzubauen glaubte, war nur eine Fata Morgana.
Die Bundesregierung steht nun in der moralischen Pflicht, Tausende Ortskräfte, die jahrelang für die Bundeswehr gearbeitet haben, auszufliegen. Ihr Leben wird massiv durch die Taliban bedroht. Es ist ein Fiasko, dass es hierfür nicht schon seit Monaten Pläne gibt.
Das kann jedoch kein Freibrief für eine ungebremste Aufnahme von Migranten sein. Dieses Problem muss international gelöst werden. Flüchtlingsorganisationen wie das UNHCR sollten sich in Afghanistan und in den Nachbarländern um die Versorgung der Menschen kümmern. Insbesondere Pakistan und der Iran müssen bei dieser humanitären Mammutaufgabe unterstützt werden.