Seitdem die Seniorinnen der Berliner Cajewitz-Stiftung Tanz und Qigong praktizieren, scheint es, als würde sich der rote Faden ihres Lebens wiederfinden. Journalistin Christel Sperlich hat zehn über 80- und 90-jährige Frauen interviewt und ihre Lebensgeschichten in dem Buch „Mein schönstes Kleid“ aufgeschrieben.
Anfangs kommen die Teilnehmerinnen meist mit Angespanntheit, Schmerzen oder mit innerer Unruhe in den Kurs. Sie sind kontrolliert, innerlich angetrieben. Zunehmende körperliche Einschränkungen haben Einfluss auf ihre Stimmung, auf körperliche Missempfindungen und Erschöpfung. Durch das sanft fließende, wie auch kraftvolle Körpertraining verbessern sich Mobilität, Geschicklichkeit, Konzentration, Ausdauer und koordinative Fähigkeiten. Ebenso die Haltung, der Gang und ihre Balance. Schönheit entfaltet sich und das stolze Gefühl, den körperlichen Beschwerden etwas aus eigener Kraft entgegenzusetzen.
In der Bewegung öffnen sich neue Bewegungs-„Erlaubnisse“. Im meditativen Innehalten scheint es, als würden die Frauen eins werden mit dem rieselnden Wasser, den tanzenden Wolken, dem Kornfeld im Wind. In altersloser Eleganz und Grazie.
Das höhere Alter ist eine „neue“, die letzte Lebensphase, in der Bewegung und Gemeinschaft eine immer größere Bedeutung gewinnen. Die Senioren gestalten durch ihre eigenen Lebensthemen die Stunden maßgeblich mit. Manchmal fließen Handgriffe eines langen Lebens in die Übungen mit ein, putzen, kochen, stricken, gärtnern. Hinter Erinnerungen wie den Kinderspielen, Jugendtänzen, den alten Schlagern und Modekisten, dem schönsten Kleid, leuchten die vergangenen Zeiten noch einmal auf, treten Ereignisse von früher zu Tage und werden vertanzt. Aber auch Furcht vor dem Abbau der Kräfte, vor dem Alleinsein oder Verlassen werden finden eine Ausdrucksform.
Kriegstraumata vertanzen – Es heißt, dass der Körper ein Gedächtnis habe und alle Erfahrungen und Gefühle abspeichert. So erklärt sich, warum beispielsweise die eine schreckhaft ist oder reizempfindlich, eine andere im Fahrstuhl oder bei Menschenansammlungen Platzangst bekommt. Ein sensibles Erspüren des eigenen Körpers, beruhigendes Atmen oder Tänze des Vertrauens geben Stabilität und Aufrichtung. Aus der Enge im Brustkorb entsteht ein befreiendes Empfinden von Weite. Über Musik, Bilder, Collagen und Texte, in Bewegung und Stille, im Verweilen und Innehalten sowie beim gemeinsamen Tanz finden Lebenslinien eine Sprache, werden miteinander geteilt und bewegt.
Bettina H. (83): Zuerst hatte ich überhaupt keine Lust, dort hinzugehen. Wahrscheinlich ist das so etwas Esoterisches, dachte ich. Doch das Fazit nach anderthalb Stunden: aufrechte Haltung. Leicht in Körper und Geist. Das reicht wieder für die ganze Woche. Schwer ist das Alleinsein. Wer wie ich allein lebt, muss aufpassen, dass man keinen bösen Blick bekommt. Die Übung „Das innere Lächeln“ im Qigong ist wie ein
guter Wegweiser.
Helga W. (82): Bilder meines Lebens gehen mir durch den Kopf, wenn wir beim Qigong verschiedene Lebensfragen aufgreifen. In eine Art Kanon, in einer gemeinsamen Choreografie wird dann alles zusammengefügt und umgesetzt. Schön ist es, wenn wir uns eigenständig dem Zauber des Momentes ganz hingeben. Das ist ähnlich wie beim Jazz. Keine reproduzierte Musik, sondern Klänge, die stets neu aus dem Erfinden des Augenblicks heraus entstehen. Jede von uns gestaltet etwas Eigenes, und trotzdem kommt etwas Gemeinsames zum Ausdruck. Überraschend sind dann die einzelnen Assoziationen. Das ist spannend und fasziniert mich. Ich gehe dann mit einer wunderbaren innerlichen Wärme nach Hause.
Ich hatte Lungenkrebs. Ich konnte einen Arm nicht mehr bewegen. Beim Kranich-Qigong „Der Kranich öffnet seine weißen Schwingen“ kann ich nun wieder beide Arme heben und immer fließender bewegen. Das macht mich so froh. Es ist wie ein Gleichklang, ein Schweben. Ein immer wiederkehrendes Traumbild erscheint: loslassen, abheben, fliegen. Mit der Weitsicht von oben lassen sich die Dinge besser überblicken. Das Wesentliche im Leben wird leichter erkennbar.
Irene R. (88): Das ist spannend, weite Wiesen und Wälder oder das Meer vor sich zu sehen. Geräusche, Farben, Düfte zu spüren. Kraft schöpfen an einem Ort, an dem man sich sicher und geschützt fühlt. Wenn wir von unserer Reise zurückkehren, bewegen wir im gestischen Spiel, was wir entdeckt, erlebt und empfunden haben. Es entstehen überraschend Bewegungen, die man nie zuvor gemacht hat. Wenn ich dann wieder allein in meiner Wohnung bin, geht mir noch manches durch den Kopf, wie ich früher auf den Saalewiesen Blumen gepflückt habe, wie ich die Sträußchen meiner Mutter oder den Nachbarn schenkte. Damals blühten die Gräser wundervoll. Solche Gräser findet man in der Stadt nicht mehr. Die Bewegungen sind wunderbare Anstöße. Sonst würde mich doch niemand mehr darauf aufmerksam machen oder danach fragen, wie mein Leben war, und wie es mir früher ergangen ist.
Wir beschäftigen uns mit den unterschiedlichsten Lebensfragen, mit den eigenen Talenten, mit unserer Sehnsucht, der Einsamkeit. Eines der vielen Themen war „Schönheit“. Meine Hände formten spontan in der Luft einen weiblichen Frauenkörper. Der hatte etwas sehr Erotisches. So behaupteten es jedenfalls die anderen. Sie meinten, dass bei meiner Vorführung sogar meine Hüften leicht in Schwingung kamen. Die gesamte Figur wurde dadurch rund und weich und flexibel. Das war sehr berührend, auch dass wir uns alle frei in unserer alternden Anmut zeigten.
„Themen, die uns beschäftigen, drehen sich um Schönheit, Einsamkeit und die Sehnsucht“
Ruth D. (90): Ich nehme Qigong mit in den Alltag. Die Arme öffnen, schließen, heben, senken, schwingen nach vorn und zurück. „Wecke das Qi“ oder „Dem wilden Pferd die Mähne streichen“, das habe ich mir gemerkt. Oder ich stelle mich kerzengerade hin, wie in der Figur „Der Hahn steht auf einem Bein“, aber natürlich nur mit Festhalten an der Tischkante. Gern kreise ich zu Hause auch nur das Becken, die Schultern, Hand- und Fußgelenke. Und manchmal heißt es in meinen vier Wänden auch einfach nur „Hacke, Spitze, hoch das Bein“.
Die Bewegungen sind zwar zart, doch zugleich unglaublich kraftvoll. Es kommt nicht selten vor, dass ich die Zähne sehr zusammenbeißen muss. Ich bin halt ehrgeizig. Was mir gefällt, ist die Kombination der gegensätzlichen Kräfte. Zum einen die Dynamik, das Flotte, wenn es anstrengend wird. Zum anderen das Geruhsame und die Sanftheit. Ich habe auch gar nicht geahnt, was für starke Kräfte von einer Berührung ausgehen, wenn einer dem anderen die Hände auf den Rücken legt, über seine Arme gleitet, die Schultern mit den Fingerspitzen sacht abklopft oder ausstreicht. Sich einander hingeben, das sind angenehme Empfindungen, die wirken hinterher noch lange in mir nach.
Helga G. (81): Über Qigong der Natur zu lauschen und uns vorzustellen, mit ihr eins zu werden, hilft mir, den Augenblick zu erspüren. Meist gehen mir viele Gedanken durch den Kopf. Dabei empfinde ich Leichtigkeit und Freude an der Gestaltung. Dass ich mich mal lockern kann und nicht immer nur der Pflicht nachgehen muss, tut wohl. Qigong lässt mich meine Sorgen vergessen. Ich habe vorher viel gegrübelt, die Gedanken drehten sich im Kreis. In all den Jahren, in denen ich jetzt schon dabei bin, achte ich mehr auf mich, kann besser zu mir selbst stehen.
Zu Beginn des Kurses litt ich noch unter starken Nackenverspannungen und Migräne. Schultern und Genick waren extrem steif. Diese Kopf-, Nacken- und Schulterblockaden sind alle weg. Es ist die Ruhe, die von der Bewegung ausgeht. Man denkt nach, stellt sich Dinge vor, die man sonst nie beschreiben würde. Ich kann mich tief entspannen. Einige dieser wirklich angenehmen Übungen könnte ich stundenlang machen. Wenn man sich darauf besinnt, dann fließt sie auch, unsere Lebensenergie.
Auch bestimmte Verhaltensstrategien konnte ich mir aus den Bewegungen holen. Als Kind bin ich bei Gewitter immer unter den Tisch gekrochen, weil ich fürchtete, die Bomber kommen. Silvester, wenn die Raketen knallen, zucke ich innerlich zusammen. Diese Ängste sind tief in meinem Körper verborgen, auch wenn ich vieles verdrängen konnte.
Manchmal ahmen wir Tiere nach und machen uns ihre Kräfte zu eigen. Es ist lustig, wenn wir in Partnerarbeit Auge in Auge die Tigerkrallen ausfahren oder die Bärentatze zeigen. Das sind einfache Formen der Selbstverteidigung, aber auch der Achtsamkeit in respektvoller Begegnung. Dabei erkunden wir unsere Standfestigkeit und das Zentrum unserer Kraft. Ich fand viele Anregungen, wie man sich mit einer gewissen Technik abgrenzen kann. Diese Kampfkünste sind wir nicht gewöhnt. Sie geben einem ein gutes Gefühl von Sicherheit, in altersloser Anmut und Würde.
Brunhild G. (78): Beim Qigong-Tanz wird man richtig auf Trab gehalten. Als ich das erste Mal teilgenommen habe, dachte ich zum Ende hin: „Gott sei Dank ist jetzt Schluss.“ Ich war vollkommen erschöpft. Sämtliche Körperteile von Kopf bis Fuß kommen in Schwung. Manchmal geht mir regelrecht die Puste aus, dann muss ich seufzen oder gar stöhnen. Aber wenn ich die noch weit älteren Damen sehe, wie selbstverständlich sie alles mitmachen, gibt es mir Mut und spornt mich an. Dann will ich das auch schaffen.
Rosemarie N. (82): Ich bin an den Rollstuhl gebunden, habe immer weniger Ansprache und bin nach und nach mehr auf mich bezogen. Jetzt kann ich meinen Körper immer wieder herausfordern und feststellen, dass eben doch noch etwas funktioniert und manchmal sogar noch ein bisschen mehr. Gerade bei trüber Stimmung oder negativen Erlebnissen, wenn ich denke, ach jetzt ist alles schon nicht mehr schön, richten mich diese Qigong-Übungen körperlich wie auch mental wieder auf. Wenn der ganze Oberkörper tanzt und dazu noch Musik läuft, das ist beglückend.
Barbara S. (88): Besonders die harmonischen, fließenden Bewegungen werden eins mit meinem Körper. Trotz meiner Schwerhörigkeit fühle ich mich dabei nicht behindert. Wenn ich tanze, sprechen wir eine gemeinsame Sprache, die des Körpers. Ich empfinde mich als den anderen gleichwertig und ebenbürtig.
Elke K. (77): Übungen wie „Der Fischer wirft seine Netze aus“ oder „Die Schöne am Webstuhl“ klingen sehr poetisch, haben aber auch einen ziemlichen Muskelkater zur Folge. Ebenso die asiatisch paradoxen Anweisungen, Spannung halten und zugleich locker sein, stabil und gleichermaßen biegsam, so „wie ein Bambus im Wind“. Mich nach den vorgegebenen Bildern zu bewegen, gibt mir Halt. Schwieriger finde ich ist es, mich ohne Anleitung frei auszudrücken. Ich hätte nicht gedacht, was mich das für eine Überwindung kostet. Sich vor den anderen zu zeigen, sich eigentlich auch preiszugeben, das ist nicht jedermanns Sache. Als ich das erste Mal dabei war, war ich ziemlich irritiert, wie die alten Damen das alles so gut können. Gerade bei einigen Frauen, die ich sonst eher als sehr strukturiert und ernst einschätzte, hat mir das sehr imponiert.
Lieselotte G. (96): Das Schlimmste am Krieg war für mich, als mich zwei Russen in ihre Gewalt nahmen. Ich war erst 23. Nach so langer Zeit darf ich mich jetzt mit dem Körper ausdrücken, meine Gefühle und Emotionen, sogar bis in die Hände und Fingerspitzen hinein. Die Gespräche zwischendurch zu Themen, über die man sonst gar nicht spricht, verbinden uns alle sehr. Wir denken zurück an unsere Lebensstationen. Der Blick zurück an die heiteren, aber auch an die ernsten und schweren Zeiten geschieht wie von allein und hat manchmal in mir auch dunkle Stunden hochgewühlt. Aber dass wir das Erlebte gemeinsam bewegen und durch neue Bewegungen verwandeln, das entlastet und befreit mich. Ich habe das Gefühl, als käme nun alles wieder in eine Ordnung. „Mit Anmut bis zuletzt“, das ist jetzt mein Lebensmotto.