Immer mehr Kinder leiden an sogenannten Kreidezähnen. Eine mögliche Ursache dafür ist die Einnahme von Antibiotika in den ersten vier Lebensjahren.
Sie sind gelblich oder bräunlich, abgesplittert, porös und mit Furchen versehen. Schnell liegt bei dem Anblick die Vermutung nahe, Zähne, die so aussehen, kriegen zu wenig Aufmerksamkeit. Sie werden weder gepflegt noch geputzt. Ein Anblick, der bei in die Jahre gekommenen starken Rauchern oder Zuckerliebhabern naheliegen könnte, ist bei Kindern nur verwirrend. Nicht selten ist der unschöne Anblick für andere ein Anlass, die Geplagten zu hänseln. Diese leiden doppelt: an den entstellten Zähnen und den damit verbundenen Schmerzen beim Putzen. Es sind Kinder mit sogenannten Kreidezähnen. Lange war das Krankheitsbild kaum bekannt, inzwischen trifft es immer mehr.
Nach einer aktuellen Studie der Barmer-Ersatzkasse haben mindestens 450.000 Kinder in Deutschland Kreidezähne. Damit sind rund acht Prozent aller Sechs- bis Zwölfjährigen von dieser Störung im Zahnschmelz betroffen. Neben Karies gilt die Molaren-Inzisiven-Hypomeneralisation (MIH), umgangssprachlich Kreidezähne, als zweite schwerwiegende Zahnerkrankung bei Heranwachsenden. Es handelt sich um eine Mineralisierungsstörung während der Zahnentwicklung, die sich beispielsweise durch weiß-gelbliche oder gelb-braune Verfärbung an den Kauflächen oder Zahnhöckern zeigt. In schweren Fällen kann der Zahnschmelz absplittern. Solche Kreidezähne sind äußert schmerzempfindlich und reagieren sehr sensibel auf Hitze, Kälte und beim Zähneputzen. Diese Strukturbildungsstörungen des Zahnschmelzes betrifft vorrangig die ersten Molaren, also die bleibenden, ersten großen Backenzähne und die bleibenden Schneidezähne. Die MIH wird daher in der Regel im Kindesalter nach dem entsprechenden Zahndurchbruch ab etwa sechs Lebensjahren diagnostiziert.
Nun haben Experten deutliche Anzeichen für einen erkennbaren Zusammenhang zwischen der Einnahme bestimmter Antibiotika und der Zahnerkrankung festgestellt. „Kinder haben häufiger Kreidezähne, wenn sie in den ersten vier Lebensjahren bestimmte Antibiotika erhalten haben“, erklärt der Vorstandsvorsitzende der Barmer, Professor Christoph Straub. Bisher sei jedoch über die Entstehung der Kreidezähne wenig bekannt, dies mache sie besonders tückisch. Die Ernährung habe auf die Entstehung wahrscheinlich keinen Einfluss. Auch regelmäßiges Zähneputzen könne Kreidezähne nicht verhindern, da die Zähne bereits geschädigt durchbrechen. Laut Straub werde über mögliche Ursachen der Kreidezähne viel diskutiert, auch über das mögliche Zusammenwirken von Arzneimitteln und der Zahnstörung.
Für den aktuellen Barmer-Zahnreport wurden unterschiedliche Antibiotika geprüft, beispielsweise die, die bei Atem- oder Harnwegsinfekten zum Einsatz kommen. Hier zeige sich, dass Kinder mit Kreidezähnen in den ersten vier Lebensjahren häufig angewendete Antibiotika bis zu etwa zehn Prozent mehr verordnet bekämen als Gleichaltrige ohne Kreidezähne. „Die Verschreibung von Antibiotika steht in einem erkennbaren Zusammenhang mit dem Auftreten von Kreidezähnen“, berichtet Straub. Allerdings sei noch unklar, wie dieses Zusammenwirken genau funktioniert. Weitere Untersuchungen seien erforderlich.
Immerhin ist man bei der Vergabe von Antibiotika auf einem guten Weg. So habe sich die verordnete Menge dieser Medikamente bei Kindern bis fünf Jahren zwischen 2005 und 2019 mehr als halbiert. Während der Corona-Pandemie ist die Menge noch einmal deutlich gesunken, weil die Abstands- und Hygieneregeln zu weniger sonstigen Infektionen geführt hätten.
Nach den Ergebnissen des Zahnreports sind Mädchen häufiger als Jungen betroffen. Zwischen den Jahren 2012 bis 2019 hatten knapp zehn Prozent der Mädchen und rund sieben Prozent der Jungen Kreidezähne. Ein Grund scheint auch das Alter der Mutter bei der Geburt zu spielen. Nach der Studie bekommen Kinder vergleichsweise selten Kreidezähne, wenn die Mutter zum Zeitpunkt der Geburt noch sehr jung oder schon älter als 40 Jahre alt war. Gebärende im Alter zwischen 30 und 40 Jahren haben etwa doppelt so häufig Kinder mit Kreidezähnen. Woran es liegt, dass einige Kinder Kreidezähne bekommen, ist längst noch nicht geklärt. Hier bedarf es weiterer Forschung. „In Kenntnis der Ursachen könnten zukünftig dann auch endlich präventive Maßnahmen möglich werden“, erklärt Professor Michael Walter, Autor des Barmer-Zahnreports und Direktor der Poliklinik für Zahnärztliche Prothetik an der Medizinischen Fakultät Carl Gustav Carus der Technischen Universität Dresden.
Obwohl die Zahl der Betroffenen steigt, handelt es sich bei MIH um ein scheinbar noch junges Phänomen. Nach der fünften Deutschen Mundgesundheitsstudie aus dem Jahr 2016 wurde die Krankheit 1987 zum ersten Mal diagnostiziert. Für Professor Stefan Zimmer, Präside der Deutschen Gesellschaft für Präventivzahnmedizin, könne man bei der zunehmenden Häufigkeit schon von einer Volkskrankheit sprechen. Allerdings stellen sich dabei zwei Fragen: Gibt es wirklich mehr Fälle von Kreidezähnen? Oder fallen sie nur mehr auf?
Die Zahnerkrankung ist nur zu erkennen, wenn die Zähne kariesfrei sind. Die Zunahme der Kreidezähne könnte damit zusammenhängen, dass die Zahl der Kariesfälle bei Kindern und Jugendlichen deutlich zurückgegangen ist und sie somit leichter festzustellen sind. Einige Experten gehen davon aus, dass es die Krankheit schon länger gibt und unerkannt blieb. Professor Zimmer ist anderer Meinung und vermutet hinter den Kreidezähnen eine neue Zahnerkrankung. „Es gab auch in den 1980er-Jahren kariesfreie Zähne, und die Schneidezähne waren früher oft gesund“, sagt er. Genau an diesen Zähnen zeigt sich MIH.
Mindestens 450.000 Kinder in Deutschland haben Kreidezähne
Neben der Einnahme von Antibiotika könnten auch Umwelteinflüsse die Kreidezähne verursachen. Vitamin-D-Mangel könnte beispielsweise ein Grund sein, ausgelöst durch weniger Aufenthalt in der Sonne. Eltern achten heute verstärkt darauf, dass ihre Kleinen nicht so sehr der Sonne ausgesetzt sind. Zudem haben die verwendeten Sonnenschutzmittel im Vergleich zu früheren Generationen viel höhere Lichtschutzfaktoren. Eine weitere populäre Erklärung ist der Einfluss durch Plastikflaschen. Aus diesen wird seit den 1980er- und 1990er-Jahren deutlich häufiger getrunken als früher. Als möglicher Auslöser gilt beispielsweise Bisphenol A, das manchmal bei der Herstellung der Flaschen zum Einsatz kommt. Das Bundesinstitut für Risikobewertung hält diesen Zusammenhang allerdings für unwahrscheinlich.
Erschwert wird die Ursachenforschung noch dadurch, dass zwischen dem Beginn der Krankheit und ihrer Diagnose oft Jahre liegen. Entdeckt werden die Kreidezähne erst, wenn sie durchbrechen. Vor allem an den ersten bleibenden Zähnen ist MIH zu erkennen. Gebildet werden die Zähne jedoch sehr viel früher und damit auch die Krankheit. Meist entwickelt sich der Zahnschmelz bereits in den ersten Lebensjahren. „Wenn man die MIH sieht, ist es schon passiert“, erklärt Professor Stefan Zimmer, der Präsident der Deutschen Gesellschaft für Präventivzahnmedizin.
Eine eindeutige Erklärung für die Zahnkrankheit gibt es nicht, viele mögliche Ursachen sind Spekulation. Verhindern lassen sich die Kreidezähne dadurch nicht, aber sie sind behandelbar. Und nicht jede Verfärbung ist ein Anzeichen für einen von MIH befallenen Zahn. Verfärbt sich beispielsweise einer der ersten großen Backenzähne und zeigt sich als Kreidezahn, steckt bei anderen verfärbten Zähnen meist kein MIH dahinter. Auch wenn ein Zahn als Kreidezahn diagnostiziert wird, ist er nicht unbedingt behandlungswürdig. Nach Angaben der Bundeszahnärztekammer sei nur bei etwa fünf Prozent der betroffenen Zwölfjährigen die Krankheit so ausgeprägt, dass tatsächlich etwas dagegen getan werden muss. Behandelt werden müssen Kreidezähne vor allem dann, wenn neben den Verfärbungen ein sogenannter Schmelzeinbruch auftritt. Denn damit steigt auch die Schmerzempfindlichkeit. Um diese zu verhindern, füllen Zahnärzte die Zähne meist mit Kunststoff und setzen Fluoride ein. In seltenen Fällen sind die Zähne so stark beschädigt, dass sie gezogen werden müssen. Durch kieferorthopädische Maßnahmen können die entstandenen Lücken bei Kindern und Jugendlichen in der Regel wieder geschlossen werden. Eltern sollten grundsätzlich auf gute Mundhygiene achten, weil die raue Oberfläche der Kreidezähne empfindlich und anfälliger für Karies ist.