Britische Archäologen haben eine umstrittene These aufgestellt. Demnach sollen in der frühesten Stonehenge-Phase sogenannte Blausteine aus walisischen Vorgänger-Kultstätten verwendet worden sein – vor allem aus dem in den Preseli-Bergen gelegenen Waun Mawn.
Falls sich diese These bewahrheiten sollte, dass das noch immer legendenumwobene Stonehenge zumindest in seinen Anfängen so etwas wie ein Recycle-Monument von walisischen Vorgängerbauten gewesen war, käme das einer archäologischen Sensation gleich. „Die Blausteine an einem Monument in Wales abzubauen und sie gezielt an einer über 250 Kilometer entfernten Stelle zu nutzen, wäre in dieser Dimension etwas Neues. Allein für den extrem aufwendigen Vorgang, über diese Distanz derart große Blöcke zu transportieren, gibt es kein zweites Beispiel", so der Professor für Prähistorische Archäologie Johannes Müller von der Universität Kiel. Professor Müller gehört denn auch zu den prominenten Skeptikern der These von den wandernden Steinen. Auch wenn er weitreichende Migrationsbewegungen in Britanniens Jungsteinzeit vor rund 5.500 Jahren für absolut wahrscheinlich hält und auf diverse Vorbilder für Stonehenge in Britannien von Waun Mawn in Wales bis zum Ring of Brodgar auf den Orkney-Inseln verweist. „Es gibt also rituell betrachtet nicht nur ein Proto-Stonehenge, sondern viele", so Müller.
Müllers renommierter Kollege David Jacques von der Universität von Buckingham, ein ausgesprochener Stonehenge-Spezialist, zeigt sich weitaus aufgeschlossener für die These eines beschwerlichen Landtransports der gigantischen, jeweils zwei bis drei Tonnen schweren und zwei bis drei Meter hohen Dolerit-Steine, die wegen ihrer bläulich-schimmernden Oberfläche als Blausteine bezeichnet werden. Allerdings ist Jacques der Meinung, dass sich nur ein kleiner Teil, nämlich gerade mal drei Monolithen, der insgesamt rund 80 Stonehenge-Blausteine direkt mit einer konkreten Vorgänger-Kultstätte verbinden lassen. „Vermutlich haben sehr viel mehr Standorte Steine beigesteuert", so David Jacques.
Gerade mal drei der 80 Monolithen
Dass Wales und speziell die in der Nähe von Waun Mawn gelegenen Megalith-Steinbrüche Carn Geodog und Craig Rhos-y-Felin bei der Anlage von Stonehenge eine wesentliche Rolle gespielt hatten, war schon länger bekannt. Die hoch aufragenden Sandsteinblöcke namens Sarsen wurden im gerade mal 25 Kilometer nördlich der Monumentalanlage gelegenen West Woods gebrochen. Im Gegensatz zu den Blausteinen für die innere Ringkonstruktion, die wohl aus den fernen Steinbrüchen in den westwalisischen Preseli-Bergen stammten. Bis heute ist der Errichtungszweck des Monuments ungeklärt, wobei die Erklärungsansätze von Kult- oder Begräbnisstätte über Ahnenverehrung bis hin zu astronomischem Observatorium reichen.
Zur Erleichterung der Plackerei wurden beim Transport der Blausteine wohl hölzerne Schlitten verwendet, wie ein Team um den britischen Prähistorischen Archäologen Prof. Michael Parker Pearson vom University College London Anfang 2019 herausgefunden hatte. Gemeinsam mit seinem britischen Kollegen Prof. Christophe Snoeck von der University of Oxford hatte Parker Pearson schon 2015 durch die Untersuchung von Knochenfunden in Stonehenge nachweisen können, dass dort um 3000 v. Chr. Menschen begraben wurden, die längere Zeit in Westbritannien gelebt hatten –
womöglich in Wales und vielleicht sogar in den Preseli-Bergen. „Offenbar gab es in der Gegend vor 5.000 Jahren eine längerfristige Wanderbewegung von Westen nach Osten", so Parker Pearson. Die Wissenschaftler äußerten damals die Vermutung, dass die Toten in Wales verbrannt und gemeinsam mit den Blausteinen aus ihrem Umfeld nach Stonehenge gebracht worden seien, um dort ihre letzte Ruhestätte zu finden. In Gestalt der Steine sollen sie symbolisch ihre Vorfahren mitgenommen haben.
Dass walisische Bauern womöglich zeitlich schon deutlich vor Stonehenge eigene Steinkreise in ihrer Heimat errichtet hatten, dass womöglich sogar von dort im Sinne einer Wanderkultstätte Monolithen ins östliche Stonehenge gelangt sein könnten, hatte Parker Pearson 2019 vermutet. Daher hatte er sich mit einem Forscherteam auf die Suche nach einem entsprechenden Proto-Stonehenge-Standort gemacht. Fündig wurde das Team schließlich in Waun Mawn. Dort waren zwar schon 2010 vier Blausteine entdeckt worden, aber man hatte dem Fund zunächst keine größere Bedeutung zugemessen. Dass es sich dabei um letzte Relikte einer größeren Kreisanlage handeln könnte, konnte selbst mit modernsten Techniken nicht nachgewiesen werden. Den Wissenschaftlern blieb nichts anderes übrig, als auf klassische Handgrabarbeit zurückzugreifen. Schließlich konnten sie Spuren eines 110 Meter messenden Steinkreises aufspüren. Damit hatte das Monument von Waun Mawn exakt den gleichen Durchmesser wie der äußere Grabenring von Stonehenge. Auch in der Ausrichtung mit dem Eingang nach Nordosten, gen Sonnenaufgang zur Sommersonnenwende, stimmte die walisische Anlage mit dem berühmten Stonehenge überein.
Klassische Handgrabarbeit wurde angewandt
Waun Mawn war laut den Forschern, die die Ergebnisse ihrer Studien Anfang Februar 2021 im Fachmagazin „Antiquity" veröffentlicht hatten, damit der drittgrößte Steinkreis in Britannien nach dem äußeren Kreis von Avebury mit 331 Metern und Stanton Drew mit 113 Metern. Anhand von sechs gesicherten Löchern und den noch vier vorhandenen Steinen gehen die Wissenschaftler davon aus, dass die Anlage aus 30 bis 50 Blausteinen bestanden haben muss. Mit der exakten Datierung taten sich die Forscher schwer, sie legten sich dann aber doch auf einen Zeitrahmen zwischen 3600 und 3200 v. Chr. fest. Womit Waun Mawn auf jeden Fall einige Hundert Jahre älter als die früheste Anlage von Stonehenge gewesen sein muss. Um das Jahr 3200 v. Chr., nicht sonderlich lange vor den Stonehenge-Anfängen, wurde die Anlage von Waun Mawn offenbar nicht nur aufgegeben, sondern wurden sogar die Blausteine größtenteils entfernt. „Die Menschen bauten einst ihre Steinkreise, um Allianzen zwischen vielen verschiedenen Gruppen zu schmieden", so Prof. Parker Pearson, „Dabei stand jeder Stein symbolisch für die Vorfahren einer Gruppe." Jedenfalls scheinen die Bewohner ihre Region aus ungeklärten Gründen verlassen zu haben. „Die meisten dieser Menschen wanderten aus und nahmen offenbar ihre Steine – Symbole ihrer Identität und ihrer Ahnen – mit sich, um an anderer Stelle neu anzufangen", so Prof. Parker Pearson.
Nun galt es allerdings noch zu belegen, dass sie ausgerechnet nach Stonehenge aufgebrochen waren. „Es scheint, dass Stonehenge zum Teil oder ganz von neolithischen Einwanderern aus Wales errichtet wurde, die ihre Monumente als physikalische Manifestation ihrer Identität mit sich brachten und in der Ebene von Salisburg neu aufbauten." Als wichtigstes Beweisstück für diese These konnte in Waun Mawn ein freigelegtes Loch identifiziert werden, dessen ungewöhnliche kreuzförmige Grundfläche genau „wie ein Schlüssel ins Schlüsselloch" zum ebenso ungewöhnlichen fünfeckigen Querschnitt von Stonehenge-Blaustein Nummer 62 passt. Auch eine ganze Reihe weiterer Löcher brachten die Wissenschaftler mit Stonehenge-Blausteinen in Verbindung, ohne jedoch einen ähnlich exakten Nachweis wie bei Blaustein Nummer 62 liefern zu können. „Ich vermute", so Parker Pearson, „dass Waun Mawn nicht der einzige walisische Steinkreis ist, der zu Stonehenge beitrug."
Bereits vor 100 Jahren hatte der Geologe Herbert Thomas die Vermutung geäußert, dass die Megalithen von Stonehenge mit Teilen eines früheren walisischen Heiligtums erbaut worden sein mussten. Sogar eine mittelalterliche Legende rund um den Zauberer Merlin hatte eine kultische Steinewanderung zum Thema. In seiner um 1136 verfassten Chronik „Historia regum Britanniae" hatte der gelehrte Geistliche Geoffrey of Monmouth erzählt, dass Merlin einen magischen, auf dem mythischen Mount Killaraus errichteten Steinkreis namens „Giants Dance" nach seinem Sieg über die Iren habe entfernen und in Britannien wieder aufbauen lassen. Möglicherweise sogar in Waun Mawn, wie Parker Pearson nicht ausschließen mag: „Wir haben vielleicht gerade das gefunden, was Geoffrey den ‚Tanz der Giganten‘ nannte."