Die politische Grundströmung im Land spricht derzeit für Olaf Scholz
Wenn nicht noch ein Wunder geschieht, fährt die Union bei der Bundestagswahl am 26. September ein desaströses Ergebnis ein. Zu eklatant sind die Schwächen von Kanzlerkandidat Armin Laschet. Der nordrhein-westfälische Ministerpräsident war von Beginn an nicht der strahlende Frontmann seiner Partei. Er setzte sich nur mit Ach und Krach als CDU-Vorsitzender durch. Im Rennen um die Kanzlerkandidatur hatte er am Ende knapp die Nase vorn. Aber nur, weil den Parteigremien die Courage fehlte, dem bayerischen Regierungschef Markus Söder den Vortritt zu lassen, was sich die große Mehrheit der Bundesbürger gewünscht hätte. Söder lässt seither kaum eine Gelegenheit aus zu sticheln, auch wenn mancher Seitenhieb als vermeintliche Umarmung daherkommt.
Laschet hat nicht nur ein Image-Problem: Der peinliche Lacher während der Rede von Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier für die Flutopfer in NRW Ende Juli hat ihn Glaubwürdigkeit gekostet. Was noch viel schwerer wiegt, ist Laschets politisches Strategie-Problem. Es ist mitverantwortlich für den Sinkflug der Union in den Meinungsumfragen. Der CDU-Mann hat keine zündende Botschaft – Neudeutsch: Narrativ. Es ist unklar, wofür er steht. Mal stellt er sich als Erbe der scheidenden Kanzlerin Angela Merkel dar. Mal will er sich von ihr abgrenzen und predigt die „Entfesselung" der Wirtschaft durch Bürokratieabbau, woran es offenbar in den letzten 16 Jahren gehakt hat. Das alles passt nicht zusammen. Laschets Knall auf Fall präsentiertes „Zukunftsteam" ist ein Akt purer Verzweiflung.
Hinzu kommt, dass der Kandidat selbst völlig widersprüchliche Signale aussendet. Laschet verkauft sich gern als Integrator, Moderator und Vermittler – das ist eigentlich sein politischer Markenkern. Angesichts seines verschwommenen Profils versucht er nun, auf Teufel komm raus zu polarisieren. Die schrille Warnung, SPD-Kanzlerkandidat Olaf Scholz ziehe die Linkspartei möglicherweise als Koalitions-Joker, ist eine allzu durchsichtige Wiederauflage der „Rote-Socken"-Kampagne der 90er-Jahre.
Im Gegensatz zu Laschet bietet Scholz einen schnörkellosen Mitte-Links-Kurs. Vom Stil her gibt er sich unaufgeregt, kühl. Seine Wahlkampf-PR bemüht sich, ihm die Merkel-Aura bis hin zur demonstrativen Kanzlerin-„Raute" zuzuschreiben. Gleichzeitig sind die Forderungen von Scholz plakativ und eingängig: zwölf Euro Mindestlohn, stabile Renten, steuerliche Entlastung für kleine und mittlere Einkommen.
Zudem weisen die traditionell streitlustigen Sozialdemokraten, die immer wieder eine unbändige Lust an der Demontage ihres Spitzenpersonals hatten, eine Geschlossenheit auf wie selten. Die SPD ist heute das, was die CDU über Jahrzehnte war: ein Kanzlerwahlverein. Es kommt zu einer Konvergenz zwischen Spitzenkandidat und Partei. Die linken Genossen legen eine ungewohnte Disziplin an den Tag. Die Parteichefs Saskia Esken und Norbert Walter-Borjans halten sich zurück und lassen Scholz machen. Die große Frage ist freilich, ob die Harmonie auch noch trägt, wenn die SPD den Kanzler stellt. Partei-Vize Kevin Kühnert und andere dürften mit ihren Fantasien der Verstaatlichung von Großunternehmen nicht hinter dem Berg halten. Dem Wirtschaftsstandort Deutschland stünde ein Stresstest bevor.
Die Grünen erlebten nach der Bekanntgabe der Kanzlerkandidatur von Annalena Baerbock im April zunächst eine Hype-Phase. Die Spitzenfrau zog auch bürgerliche Wählerinnen und Wähler an und katapultierte ihre Partei in Umfragen weit über die 20-Prozent-Marke. Doch Baerbocks Schwächen im Umgang mit ihrem aufgehübschten Lebenslauf, ihre Dünnhäutigkeit angesichts von Kritik und ihre fehlende Regierungserfahrung reduzierten ihre Anhängerschaft zuletzt auf die grüne Stammklientel.
Die politische Grundströmung im Land spricht derzeit für Scholz. Der spröde Hanseat verkörpert das Gefühl, dass es auch nach Merkel ohne große Brüche weitergeht. Das entspricht dem weit verbreiteten Bedürfnis nach Stabilität. Die Bürger sind ohnehin nicht für ihre Lust am Risiko bei Bundestagswahlen bekannt. Das einzige, was dem SPD-Kanzlerkandidaten die Rechnung vermasseln könnte, wäre ein zu heftiger Koalitionsflirt mit der in der Sicherheits- und Außenpolitik völlig abseits stehenden Linkspartei. Danach sieht es aber nicht aus.