Franziska Giffey ist unter den Kandidaten am beliebtesten. Die Berliner tragen ihr offenbar die Tricksereien bei ihrer Doktorarbeit nicht nach. Doch welche Koalition sie eingeht, ist nicht ausgemacht.
Sie hält durch. Franziska Giffey steht neben Kanzlerkandidat Olaf Scholz auf einer kleinen Bühne in Zenners Weingarten. Der Kandidat beantwortet Frage auf Frage, redet über Afghanistan, die Finanztransaktionssteuer, Wirtschaftswachstum. Dazwischen setzt Giffey ihre Hauptstadtthemen: der Kultur- und Tourismusbranche wieder auf die Beine helfen, den öffentlichen Nahverkehr ausbauen, Lehrer gut bezahlen und auch verbeamten. Beim Thema Schule zählt sie auf, was die SPD alles schon geschafft habe: Mittagessen für alle Schul- und Kitakinder, das kostenlose BVG-Ticket. Seit 90 Minuten geht das so, und immer noch bringen Helfer der Moderatorin kleine Zettel mit neuen Fragen aus den Reihen der rund 200 Zuschauer. Langsam wird es kühl. Draußen auf der Spree fährt ein Ausflugsdampfer vorbei, die Kandidaten winken, das Publikum applaudiert, die Kameras klicken.
Der Wahlkampf ist in seiner heißen Phase angekommen. Franziska Giffey nutzt jede Gelegenheit, im Wind der Scholz’schen Popularität mitzusegeln. Die SPD hat einen Lauf. Giffey selbst könnte laut Umfragen bei einer Direktwahl für das Amt des Regierenden Bürgermeisters mit gut 35 Prozent der Stimmen rechnen, ein Rückgang gegenüber Juni um acht Prozent. Damit liegt sie zwar weit vorn. Alle anderen Kandidaten kommen nicht mal auf 20 Prozent Beliebtheitsgrad. Aber die Berliner würden laut August-Umfrage der Insa bei der Abgeordnetenhauswahl der SPD nicht mehr als 23 Prozent der Stimmen gönnen. Das ist aktuell der Wert, um stärkste Kraft zu werden. 1989 waren noch mehr als 37 Prozent nötig.
Und so tingelt Franziska Giffey schon seit Wochen durch die ganze Stadt und verbreitet ihre fünf „B": Bauen, Bildung, Beste Wirtschaft, Bürgernähe und Berlin in Sicherheit. Von der Rudower Kleintierschau zum Kiezfest auf dem Rüdesheimer Platz, von der Freisprechfeier der Berliner Schornsteinfeger-Azubis bis zum Marktbesuch. Jetzt ist die Zeit, denn populär ist sie, sie kann mit den Leuten auf der Straße, sie hört zu, reagiert auch bei Störungen freundlich und scheint nie die Geduld zu verlieren. Als sie noch Ministerin war, hat sie sich auf die Senioreneinrichtungen konzentriert und sich sehr um die Ausbildung des Pflegenachwuchses gekümmert. Jetzt geht es ihr um die pflegenden Angehörigen, die stärkste Pflegekraft gegenüber den Heimen. Für sie fordert sie analog dem Elterngeld eine Art Familiengeld.
Das Thema hat sie nicht losgelassen, aber ihr Ministeramt hat sie aufgegeben und ihren Doktortitel abgelegt, noch bevor er ihr aberkannt wurde. Zu oft kamen die Signale aus der FU über Plagiate in ihrer Doktorarbeit, zuletzt hatte sich ein Professor auch noch ihre Magisterarbeit vorgenommen. Dass sie getrickst hat – die Berliner scheinen es ihr nicht allzu sehr übel zu nehmen. In dieser Stadt weiß man ja, dass vieles nicht läuft, wenn man mal nicht fünf gerade sein lässt. Nur peinlich, dass auch ihr Mann, Kasten Giffey, als Beamter wegen fortgesetzten Betrugs bei Reisekosten und Arbeitszeiten geschasst wurde. Einer Regierenden Bürgermeisterin, wenn sie es denn wird, steht das alles nicht gut an, wenn es mal hart auf hart kommt. Der noch Regierende Michael Müller verteidigt sie: „Hier wird mit offenen Karten gespielt." Die Berliner würden ihre Leistung als Ministerin anerkennen. Giffey selbst sagt: „Jetzt ist die Zeit für Berlin!"
Sie wäre die erste Ostdeutsche auf diesem Posten. Giffey, geborene Süllke, wurde am 3. Mai 1978 in Frankfurt (Oder) geboren. Ihr Vater war Kfz-Meister, ihre Mutter Buchhalterin. Sie wuchs mit einem Bruder im Dorf Briesen im Kreis Fürstenwalde/Spree auf. Nach dem Abitur 1997 am Werner-Seelenbinder-Gymnasium in Fürstenwalde nahm Franziska Giffey zunächst ein Lehramtsstudium in Englisch und Französisch an der Humboldt-Universität zu Berlin auf. Da Ärzte bei ihr eine Kehlkopfschwäche diagnostizierten und vom Lehrerberuf abrieten, wechselte sie 1998 an die Fachhochschule für Verwaltung und Rechtspflege (FHVR) in Berlin. 2001 erlangte sie dort an einer Verwaltungsfachhochschule ihren ersten Abschluss und arbeitete in Folge in der Bezirksverwaltung von Berlin-Treptow/Köpenick. 2002 schlossen sich bis 2010 ausgeübte Tätigkeiten als Europabeauftragte für Berlin-Neukölln beziehungsweise als Mitarbeiterin bei verschiedenen Institutionen auf EU-Ebene in Straßburg und Brüssel an.
„Ich habe 16 Jahre Brennpunktarbeit hinter mir"
2007 trat sie der SPD bei. 2010 wurde sie im Berliner Problem-Stadtteil Neukölln als Bezirksstadträtin verantwortlich für Bildung, Kultur, Schule und Sport. Der damalige Bezirksbürgermeister Heinz Buschkowsky (SPD) wurde ihr politisches Vorbild: Buschkowsky unterstützte die Integration der Menschen mit Migrationshintergrund massiv, setzte sich aber dafür ein, jeden Regelverstoß sofort zu sanktionieren. Die als Pragmatikerin geltende und keinem SPD-Flügel zugerechnete Politikerin wurde 2014 zur SPD-Kreisvorsitzenden von Neukölln gewählt.
Für die Aufnahme von Franziska Giffey ins Kabinett Merkel IV als Familienministerin dürfte neben ihrer parteiinternen Positionierung und ihrer Fachkompetenz wahrscheinlich auch die Tatsachen ihrer relativen Jugend und ihrer ostdeutschen Herkunft eine Rolle gespielt haben. In der SPD Berlin gehörte sie von 2014 bis 2018 als Neuköllner Kreisvorsitzende dem Vorstand an. Auf dem Landesparteitag am 28. November 2020 wurden sie und Raed Saleh zu Berliner Landesvorsitzenden gewählt. Giffey erhielt 89,4 Prozent und Saleh 68,7 Prozent der Stimmen. Im April 2021 schließlich bekam sie bei der Wahl zur Spitzenkandidatin bei einem Online-Parteitag 86 Prozent der Stimmen. Der bisherige Amtsinhaber Michael Müller trat nicht mehr an, er will in den Bundestag. In der SPD selbst ist der starke linke Flügel eher unzufrieden mit der Kandidatin. Zwar halten die Genossen die Füße still, weil sie wissen, dass sie mit Giffey die besten Chancen haben. Aber dass sie sich gegen Enteignungen stellt und ein klares Bekenntnis zu einer Fortsetzung der rot-rot-grünen Koalition verweigert, nimmt man ihr übel.
Giffey hat tatsächlich die besten Aussichten, als Regierende ins Rote Rathaus einzuziehen. Sie wird sich – wie alle ihre Vorgänger – vor allem gegen die starken Bezirke durchsetzen müssen. Was in Kreuzberg gut ankommt, wird in Marzahn-Hellersdorf noch lange nicht akzeptiert. Auch wenn sie wie in ihrer Zeit als Ministerin noch so gute Namen für Gesetze kreiert, wie etwa das „Gute-Kita-Gesetz". Vielleicht wird sie als Erstes ein „Starke-Regierung-Gesetz" vorlegen oder ein „Funktionierende-Verwaltung-Gesetz".