Vor 30 Jahren erschien das Album „Nevermind" von Nirvana. Es gilt als eine der einflussreichsten Scheiben der Musikgeschichte. Doch vor allem Sänger und Gitarrist Kurt Cobain hatte mit diesem Riesenerfolg schwer zu kämpfen.
Sich eine eigene Wohnung leisten zu können – das wäre es doch! Das war der Gedanke von Dave Grohl, bevor er 30 Millionen Alben verkaufte. Der ehemalige Schlagzeuger der Band Nirvana erinnerte sich vor wenigen Wochen in einem Interview mit dem Magazin „Uncut" daran, wie das war vor 30 Jahren, als die legendären Grunge-Rocker ihr zweites Album veröffentlichten: „Nevermind". Grohl selbst wird von Sänger und Gitarrist Kurt Cobain und Bassist Krist Novoselic zum Vorspielen eingeladen und stößt zur Band, während die Aufnahmen bereits laufen. „Als wir uns zum Spielen hinsetzten, in diesem kalten, nassen, ekelhaften Proberaum, klappte es sofort perfekt", sagte der spätere Rockstar.
Doch trotz der Harmonie untereinander ist der Erfolg vorher nicht abzusehen. Mit ihrem Debüt „Bleach" von 1989 und ihrem wütenden und vom Punk inspirierten Alternative Rock sorgen Nirvana zwar für ordentlich Aufsehen bei den College-Radiostationen und setzen immerhin 40.000 Einheiten ab, doch von ihrer Musik leben können sie noch nicht – auch wenn das Potenzial bereits erkennbar ist. Ein knappes Jahr später macht man die Band mit Produzent Butch Vig bekannt, der sich in den 90ern als Drummer von Garbage eigene Charterfolge erspielt.
Mit neuem Drummer, neuem Produzenten, dem neuen Label DGC Records und neuem Selbstvertrauen macht man sich also an die Arbeit.
Mit einem Budget von 65.000 Dollar sollen nun die Aufnahmen in den Sound City Studios in Los Angeles beginnen. Cobain sorgt für die Melodien, Butch Vig für den glatteren Sound. Von den ersten Demos zeigt sich Dave Grohl begeistert: „Diese Jungs hatten wirklich einen gewaltigen Sprung gemacht!" Dabei hat das Trio zunächst so wenig Geld, dass es für die Tankfüllung erst noch einen Auftritt absolvieren muss – mit im Gepäck: die erste Live-Darbietung von „Smells Like Teen Spirit".
Im Magazin „Sounds" sagte Kurt Cobain einst: „Unsere frühen Songs waren wirklich wütend. Aber wie die Zeit verstreicht, wurden die Lieder poppiger und poppiger, so wie ich fröhlicher und fröhlicher wurde. Vielleicht bietet sich der Song „About a Girl" vom Debüt als Vergleich für den Weg an, den Nirvana nun beschreiten. Der extrem eingängige Song ist schon fast eine echte Pop-Perle und zeigt früh Cobains Händchen für Melodieführung innerhalb einer dynamischen Liedstruktur.
„Nevermind" verdrängte sogar Michael Jackson
Nach den Proben starten die eigentlichen Aufnahmen, die so gut laufen, dass das Trio teilweise acht bis zehn Stunden im Studio arbeitet. Trotz der Disziplin zeigen sich hier bereits die erst später öf-fentlich gewordenen Probleme Cobains: „Er konnte eine Stunde lang großartig sein und dann in der Ecke sitzen und für eine Stunde nichts sagen", erinnert sich Butch Vig 2001 in der US-Zeitschrift „Guitar World". Mit der ersten Abmischung zeigen sich sowohl die Musiker als auch Vig selbst unzufrieden. Man engagiert Andy Wallace, der mit „Walk This Way" von Run-D.M.C. feat. Aerosmith Musikgeschichte schrieb und Nirvanas Aufmerksamkeit vor allem mit dem Slayer-Album „Seasons in the Abyss" erregte. „Wir sagten sofort ja, denn diese Slayer-Alben waren verdammt hart", erinnert sich Krist Novoselic in dem Buch „Nevermind: Classic Rock Albums".
Am 2. August 1991 wird „Nevermind" gemastert, also für die Veröffentlichung am 24. September endbearbeitet. Kurt Cobain zeigt sich unzufrieden mit der glatt produzierten Endfassung und vergleicht „Nevermind" mit Scheiben der Glamrock-Band Mötley Crüe. Butch Vig andererseits erzählt, dass die Band die Endfassung sehr mochte, aber es „einfach nicht cool gewesen sei" zu sagen, dass man stolz darauf sei, ein dermaßen oft abgesetztes Album eingespielt zu haben. Wie auch immer: Das Album verkauft sich bereits bis Weihnachten fast doppelt so oft, wie die Plattenfirma anfangs gehofft hatte – Geffen hatte mit 250.000 Alben kalkuliert.
Die Scheibe wird nicht nur ein Erfolg, sie wird eine Sensation in gleich mehrerer Hinsicht. „Nevermind" kickt Michael Jacksons „Dangerous" von der Poleposition der US-Albumcharts und läutet das Ende der Ära der 80er-Megastars ein. Gegen die leger gekleideten Herren aus Seattle mit ihren langen Haaren sehen die gelackten und gestylten Granden wie Madonna, Phil Collins, Sting oder eben Jackson plötzlich ziemlich alt und wie aus einem anderen Jahrhundert aus. Nirvana erden mit „Nevermind" mal eben die komplette Musikwelt. Zudem erhalten der Alternative Rock und besonders der Grunge einen enormen Schub. Im Windschatten des Mega-Erfolges von Nirvana feiern musikalisch verwandte Acts wie Pearl Jam, Soundgarden oder Smashing Pumpkins erste große Erfolge.
Die Videos der vier Singles „In Bloom", „Lithium", „Come as You Are" und natürlich „Smells Like Teen Spirit" laufen auf den Kanälen der Musiksender hoch und runter. Die drei rotzigen Jungs aus Seattle neben den durchchoreografierten Clips von Janet Jackson oder den aufsehenerregenden Effekt-Spektakeln von Peter Gabriel – wenige Jahre zuvor noch undenkbar. Da waren das höchste der Gefühle noch die Hits von Guns’n’Roses.
Cobain forderte deutlich mehr Geld
Was neben der Außenseiter-Attitüde noch den Erfolg ausmacht, sind natürlich die Songs. Die zwölf Lieder plus des Hidden Tracks überzeugen durch Dynamik und Laut/Leise-Parts, die sich meist in Strophe und Refrain abwechseln. An die ausgesprochen wütenden am Punk orientierten Passagen kuscheln sich immer wieder die wunderbaren Melodien von Kurt Cobain an, die oft schon beinahe Pop-Potenzial besitzen. Es gilt als das Verdienst von Butch Vig, aus den lärmenden und rauen Nirvana-Demos massenkompatible Lieder produziert zu haben. Das Album mit dem nackten Baby auf dem Cover, das einem Dollarschein hinterherschwimmt, verkauft sich bis heute 30 Millionen Mal.
Doch mit dem Erfolg kommen auch die Schwierigkeiten. Die Band fühlt sich erschöpft nach zu vielen Konzerten und zu vielen TV-Auftritten. Cobain wiede-rum möchte einen höheren Anteil an den Einnahmen, da er ja das allermeiste Material geschrieben hat. All der Stress bringt Nirvana an den Rand der Auflösung, besonders der Gesundheitszustand des Sängers und Gitarristen sorgt immer mehr für Aufregung.
Die „Teenage Angst", die er besingt, ist ein Teil von ihm. Daneben leidet er schon länger unter starken Magenschmerzen; der Verzicht auf Alkohol und Zigaretten bringt auch nichts. Stattdessen entdeckt er ein anderes Mittel, um den Schmerz zu betäuben: Heroin. Sechs Therapieversuche können nicht helfen. Eine chronische Bronchitis und Depressionen machen die Sache nicht besser, später diagnostiziert man noch eine bipolare Störung. Mitten in diesen seelischen und körperlichen Tumult veröffentlichen Nirvana ihr drittes und letztes Studioalbum „In Utero", fast genau zwei Jahre nach „Nevermind". Es ist deutlich rauer und zeigt mit Liedern wie „Pennyroyal Tea", „All Apologies" und „Serve the Servants" erneut das Cobain’sche Händchen für geschickte Melodien.
Selbstmord unter Drogeneinfluss
Am 18. November 1993 stemmt sich das Chaos dann noch einmal eindrucksvoll gegen die Lasten der Welt, als Nirvana ihr Unplugged-Konzert für MTV in New York einspielen. Der Fernsehauftritt scheint im Rückblick auf bizarre Weise die nächsten Monate vorwegzunehmen. Denn die Dutzende Kerzen, die wie Grabeslichter wirken, das Set ohne die meisten der bekannten Stücke und Cobains waidwunder Blick wirken wie ein Abschied. Tatsächlich erscheint der CD-Mitschnitt am 1. November 1994 – da ist der Sänger bereits mehr als ein halbes Jahr tot. Der Frontmann erschießt sich am 8. April 1994. Bassist Krist Novoselic erinnert sich später an die letzten Tage: „Er war wirklich still. Er war einfach entfremdet von all seinen Beziehungen. Er konnte einfach keinen Kontakt mehr zu irgendjemandem herstellen."
Die Polizei von Seattle teilt später mit, dass Cobain voller Heroin ist, als er den Abzug drückt. Sein Abschiedsbrief wird bei der Beisetzung als Aufnahme von seiner damaligen Frau Courtney Love vorgelesen. Die vor allem als Sängerin der Grunge-Band Hole bekannte Musikerin und später auch Schauspielerin lässt ihren Gatten kremieren und einen Teil der Asche in einen Teddybär und den anderen Teil in einer Urne bestatten. Später wird Love als Anführerin einer Verschwörung bezichtigt, der zufolge Cobains Suizid lediglich vorgetäuscht sein soll. Wie hätte der Sänger wohl reagiert auf all diese Turbulenzen? Vielleicht hätte er sich ja selbst zitiert: „Oh, well, whatever, nevermind.