Er ist keiner dieser aalglatten Schwiegersohntypen, die sich häufig in der Poplandschaft tummeln. Nach vierjähriger Studiopause legt Philipp Poisel nun das Album „Neon" vor. Im Interview erzählt er, wie es ist, mit Herbert Grönemeyer zusammenzuarbeiten und welches Verhältnis er zu seiner sehr eigenen Stimme hat.
Herr Poisel, Ihr viertes Studioalbum heißt „Neon". Wie entstehen Ihre Songs? Denken Sie in Musik, in Noten und Akkorden?
Meistens ist eine Emotion die Grundvoraussetzung für einen Impuls. Bei manchen Ideen habe ich eine Melodie im Kopf, mit der ich eine Weile lebe. Dadurch entsteht ein Text. Zuweilen sehe ich auch Bilder vor mir, die ich dann beschreibe. Dieser zum Teil unbewusste, meditative Zustand ist für mich selber schwer greifbar. Es ist fast so, als hätte ich es gar nicht selber gemacht.
Ist Fantasie notwendig, um gute Songs zu machen?
Was ist denn ein guter Song? Es gibt welche, die leben von ihrer tollen Bass Line, andere von der Bildgewalt, die beim Zuhörer im Kopf entsteht. Songs können auf verschiedenen Ebenen ihre Berechtigung haben, auch wenn Fantasie beim
Schreiben gar keine große Rolle gespielt hat.
Die Corona-Pandemie hat ja alle Pläne von Musikern erst einmal hinweggefegt. Fanden Sie diese Untergangsstimmung irgendwie inspirierend?
Eigentlich war die Abgabe für mein Album früher geplant. Wegen der Pandemie hatte ich die Möglichkeit, noch einmal ein bisschen über die fertige Platte nachzudenken, auch über den Titel. Er kam relativ spät. Zwischen der Fertigstellung und der Veröffentlichung war noch Spielraum. Das tat mir gut.
Was hat das chemische Element Neon mit Ihrer Kunst zu tun?
Mir geht es nicht explizit um das chemische Element. In dem Begriff steckt ja das Wort „Neu", was für mich ein Motto gewesen ist. Mit jedem Album will man sich einerseits treu bleiben, andererseits etwas Neues machen. In diesem ewigen Kreislauf möchte ich gerne bleiben. Ein weiterer Aspekt sind ehemals futuristische Dinge wie Neonlicht, Neonröhre, Neonreklame, Neonsticker. Die sind heute alle retro. Ich will mich positionieren zwischen Nostalgie und nach vorn schauen. Aber jeder darf sich auf „Neon" gern seinen eigenen Reim machen.
Welche musikalische Richtung reizt Sie im Moment besonders stark?
Ich bin immer interessiert an der Generation nach mir. Da gibt es Künstler, die sehr krasse Effekte auf ihre Stimme legen, was ich mich gar nicht trauen würde. Das hat etwas Erfrischendes. Ich habe weder einen Spotify-Account, noch höre ich Radio, weshalb ich nur tröpfchenweise etwas mitbekomme von den Sachen, die tagtäglich veröffentlicht werden. Ich fühle mich wohl damit, ein ganzes Album zu machen und Songs zu haben, die ich in mein Live-Programm einbetten kann.
Ist das Internet für Sie ein gigantischer Wissensspeicher, auf den Sie beim Schreiben zurückgreifen können?
Klar gibt es bei mir Momente, in denen ich auf YouTube herumschaue und gucke, was die anderen so machen. Das kann schon auch inspirierend sein.
Entscheiden Sie sich bewusst gegen Ideen, die Sie schon einmal umgesetzt haben oder spielt das für Sie keine Rolle?
Ich bin immer auf der Suche nach Neuem, aber das wird zunehmend schwieriger. Ich bin nicht immer ganz zufrieden mit mir, deshalb auch der Titel „Neon" als Aufforderung an mich, nicht stehen zu bleiben.
Wo haben Sie das Album aufgenommen und wie sorgen Sie im Studio für Atmosphäre?
Größtenteils im kleinen Studio meines Produzenten in der Nähe der Schwäbischen Alb. Ich finde, man sollte nicht viel darüber nachdenken, ob die Stimmung gerade besonders gut ist oder nicht. Da muss man einfach durch.
Haben Sie das Album mit Stift und Schreibmaschine geschrieben oder mit dem Computer?
Meistens sind es Fresszettel, auf die ich schreibe, was mir im Studio gerade so einfällt. Und dann geht es auch sehr schnell ins Mikrofon. Oft manifestiert sich das gar nicht schriftlich, sondern ich halte eher einen Gedanken fest. Manchmal sind es nur einzelne Wörter. Und wenn es dann mehrere Gedanken sind, schreibe ich sie mir auf, damit ich nicht durcheinanderkomme. Manches entsteht auch beim Singen.
Ihre Musik hat zum Teil etwas Melancholisches und Trauriges. Träumen Sie eigentlich von einem besseren Morgen und davon, wie man Dinge besser machen kann?
Soziale Bewegungen wie „Fridays for Future" machen mich ziemlich zuversichtlich. Es gibt heute auch etliche politische Initiativen in Sachen Diversität und Gleichstellung. Ich lerne viele engagierte junge Leute kennen. Die haben Lust darauf, alte Muster aufzubrechen. Das finde ich sehr positiv.
In den letzten 18 Monaten war die Stimmung in der Gesellschaft pandemiebedingt eher düster, auch die Klimaforscher zeichnen ein düsteres Bild von der Zukunft. Wie schaffen Sie es da, noch optimistisch zu bleiben?
Vielleicht bin ich in dem Punkt ja naiv, aber man darf sich von solchen Nachrichten nicht lähmen lassen. Mein Anspruch ist, weiterhin zu versuchen, positive Sachen in mein Leben reinzulassen. Man muss gerüstet sein, um den ganzen Schwierigkeiten und schlimmen Dingen entgegentreten zu können.
Wie kam es zu dem Beziehungslied „Benzin" mit den Zeilen „Sie ist meine Droge" und „Ich übergieß’ mich mit Benzin!"?
Dieses Lied habe ich in einem Moment geschrieben, in dem ich ein großes Bedürfnis hatte, auch mal alleine zu sein. Der Wunsch nach Unabhängigkeit und Freiheit spielte dabei eine Rolle. Manchmal ist einem einfach alles zu nah. Ich habe ein bisschen darunter gelitten, dass man in einer Pandemie nicht verreisen kann.
Was bedeutet für Sie persönlich Freiheit?
Das ist eine ziemlich intime Frage, ich würde da lieber meine Musik sprechen lassen. Gesellschaftlich und beruflich gesehen ist Freiheit für mich, keine Rechenschaft ablegen zu müssen. Zum Beispiel auf Reisen zu gehen, ohne dass ich mich irgendwo abmelden müsste. In einer Zeit, in der man an schnelles Feedback über die mobilen Endgeräte gewöhnt ist, versuche ich mir immer vorzustellen, wie es so wäre als Seemann. Ich weiß nicht, ob ich in früheren Zeiten die Meeresgewalten überstanden hätte, aber sich mal drei Wochen oder länger bei niemandem zu melden und eine Seereise zu machen, würde ich als sehr befreiend empfinden.
Wann hat Ihre letzte Reise stattgefunden?
Ich war während der Pandemie mit meiner Band hier und da unterwegs. Aber da ist man eben in einem Bus oder Backstageraum zusammen. Alleine unterwegs zu sein ging während der Pandemie gar nicht.
Sind Sie – wie die meisten Künstler – ruhe- und rastlos?
Ich bin relativ gut ausgelastet. Wenn ich eine Idee habe, denke ich immer, ich muss die ja nicht heute oder morgen umsetzen. Vielleicht in fünf Jahren. Bei mir muss nicht alles sofort sein. Ich bin genug beschäftigt mit den Konzerten, die wir spielen.
Wie wollen Sie das „Neon"-Album auf der Bühne präsentieren?
Ich habe bereits viele Ideen im Kopf. Ob das alles klappen wird, steht in den Sternen. Meistens lassen sich nur zehn Prozent von dem realisieren, was ich mir ausdenke. Ich hoffe, dass die Zeit ausreicht, die wir bis zur nächsten Tournee noch haben, um zumindest einen Teil davon umzusetzen.
Wird es ähnlich aufwendig werden wie Ihr Projekt „Seerosenteich"?
Ich hätte schon den Anspruch. Ob es gleich gut aufgenommen wird, bleibt offen.
Für mich hat Ihre Musik etwas Beschwörendes und Spirituelles. Können Sie mit diesen Begriffen etwas anfangen?
Das sind relativ abstrakte Begriffe. Ich weiß ja auch gar nicht, was bei den Zuhörern passiert. In erster Linie liebe ich es, mit meiner Band in Deutschland unterwegs zu sein. Über den Rest mache ich mir gar nicht so viele Gedanken.
Muss man sich als Künstler immer wieder die Frage stellen, warum man das alles überhaupt macht?
Sicherlich. Es kann ja auch sein, dass die Zeit als Musiker irgendwann vorbei ist und man sich etwas anderes suchen sollte. Aber darüber würde ich mir erst Gedanken machen, wenn es so weit ist. Wenn es sein muss, könnte ich auch ohne die Bühne leben.
Muss ein Künstler auch die Größe haben, andere hinzuzuziehen, wenn er selbst an seine Grenzen stößt?
Ja klar. Ohne die Leute um mich herum sähe ich alt aus. Meine Band, meine Produzenten und die Menschen in meinem näheren Umfeld liefern mir auch Ideen. Ich weiß nicht, ob ich ohne diese inspirierende Band noch Musik machen würde.
Haben Sie schon in der Jugend positive Erfahrungen mit dem Singen gemacht?
Es gab auch Momente, in denen ich kritisiert worden bin. Das wurde für mich zu einem Antrieb, weil ich mir den Spaß am Singen nicht nehmen lassen wollte. Ich hatte aber lange Schwierigkeiten, es vor anderen zu tun. Ein schlimmes Thema für mich. Im Chor meinte ein Mädchen neben mir, ich sänge völlig schief. Ich dachte, wahrscheinlich hat sie recht, und ich habe mich nie wieder getraut, irgendwo zu singen, wo ich mich nicht sicher fühlte.
Trotz Widrigkeiten sind Sie am Ende Profi geworden.
Ich würde mich nicht als Profi bezeichnen, aber ich gebe seit 13 Jahren Konzerte. Ein Profi ist vielleicht Whitney Houston gewesen. Ich bin eher jemand, der es schafft, Gefühle so weit in Worte zu packen, dass manche etwas damit anfangen können.
Muss man da auch seine Schwächen kennen, um als Künstler zu überleben?
Ich glaube, Kritik ist wichtig, um zu sehen, dass die Welt nicht nur so ist, wie man sie selber wahrnimmt. Um ein richtiges Bild von sich zu haben, ist es notwendig, dass Leute sagen, was sie über einen denken.
Wann kam der Punkt, an dem Sie fest an sich geglaubt haben?
Vielleicht habe ich mich so sehr mit meiner Stimme auseinandergesetzt, dass ich zwar nie der Meinung war, besonders schön singen zu können, aber zumindest ein dickes Fell zu haben. Die Kritik, dass ich so schief singen würde, hat eine Weile an mir genagt, aber irgendwann dachte ich, es ist okay für mich. Vielleicht gibt es ja auch andere, die es nicht so sehen.
Wann wurde Ihnen bewusst, dass dem so ist?
Als ich auf Herbert Grönemeyers Label Grönland kam. Das fühlte sich sehr gut an und ich war gerührt. Es war mehr als ich mir jemals erträumt hätte. Ich kann es immer noch nicht so richtig glauben.
Begleitet Grönemeyer Sie regelmäßig bei Ihren Projekten?
Wenn ich in Berlin bin, bietet er immer Unterstützung an und sagt seine Meinung. Herbert ist sehr interessiert an dem, was passiert und steht einem mit Rat und Tat zur Seite.
Wissen Sie, wie Sie es schaffen, die Hörer in Ihre Welt hineinzuziehen?
Vielleicht, indem ich es wage, beim Musikmachen selber in meine Welt hineinzuschauen. Aber ehrlich gesagt habe ich keine Ahnung, wie mir das gelingt.