Eine Ampelkoalition bietet die Chance auf komplizierte Kompromisse
Selten verliefen Gespräche über eine Regierungsbildung in Deutschland so spannend wie in diesen Tagen. Sollte am Ende eine Ampel aus SPD, Grünen und FDP stehen – wonach es derzeit aussieht –, wäre es eine Feuer- und Wasserkoalition. Noch nie waren die zentrifugalen Kräfte so stark. Die SPD will für maximale soziale Gerechtigkeit sorgen, die Grünen für maximalen Klimaschutz, die FDP für maximalen Markt. Sozialdemokraten und die Öko-Partei pochen auf eine massive Erhöhung staatlicher Investitionen und eine Aufweichung der Schuldenbremse, die Liberalen streben eine Zügelung öffentlicher Ausgaben und Beibehaltung der Schuldenbremse an. Das geht nur schwer zusammen.
Wohlgemerkt: Politische Gegensätze an sich sind nichts Neues. Auch in der 16-jährigen Ära von Bundeskanzlerin Angela Merkel gab es Reibungen in der Regierung. Sie wurden jedoch hauptsächlich innerhalb der CDU/CSU ausgetragen und nicht zwischen mehreren Parteien. Merkel sozialdemokratisierte die Union – mit schwerwiegenden Konsequenzen. Sie fischte in der politischen Mitte Stimmen ab und hielt so den großkoalitionären Juniorpartner SPD klein.
Gleichzeitig entkernte Merkel ihre Partei. Abschaffung der Wehrpflicht, Ausstieg aus der Atomenergie, Einführung der Ehe für alle, Öffnung der Grenzen für Flüchtlinge: Die Kanzlerin übernahm linke und grüne Positionen und warf einige konservative Profilelemente über Bord. Vor allem in der Willkommenspolitik gegenüber Migranten – von Innenminister Horst Seehofer einst als „Herrschaft des Unrechts" tituliert – lag sie mit der CSU über Kreuz. Merkel sicherte sich durch ihren Mitte-Kurs satte Mehrheiten. Dies gelang ihr auch deshalb, weil sie zunehmend als präsidiale Regierungschefin jenseits der politischen Lager und nicht als Vertreterin ihrer Partei wahrgenommen wurde.
Genau diese programmatische und personelle Konstellation, die in der Merkel-Amtszeit gut funktionierte, bereitet der Union heute Probleme. Die CDU/CSU hat inhaltlich kein Narrativ mehr – früher waren das einmal Wirtschaftswachstum, konservative Werte und die außenpolitische Bindung an den Westen. Das Personal an der Parteispitze – erst Annegret Kramp-Karrenbauer, dann Armin Laschet – verfügte weder über die flügelübergreifende Bindekraft noch über die präsidiale Autorität einer Angela Merkel. Die Union braucht nun Zeit, um sich neu zu erfinden.
Für Deutschland bedeutet dies, dass es sehr wahrscheinlich erstmals ein Drei-Parteien-Bündnis auf Bundesebene gibt. Dies würde eine neue politische Dynamik auslösen, in der die Unterschiede zwischen den Akteuren sichtbarer werden als in den drei Legislaturperioden einer großen Koalition unter Merkel.
Die neue Republik, in der der Wettstreit zwischen den verschiedenen Konzepten offener ausgetragen wird als in der Vergangenheit, bietet Chancen und Risiken. Alle drei Ampel-Parteien wissen um die großen Herausforderungen der Zukunft. So hat die Corona-Pandemie offenbart, dass die digitale Infrastruktur in Deutschland – zum Beispiel die Ausstattung der Schulen und Universitäten mit Computern – eklatante Lücken aufweist. Auch beim Klimaschutz kommen die Dinge erst langsam in Bewegung. Der Mangel an bezahlbarem Wohnraum und der die Wirtschaft belastende Bürokratie-Dschungel sind weitere wichtige Themen.
Perspektiven hätte eine rot-grün-gelbe Allianz dann, wenn sie jeder Partei Platz für ein Leuchtturm-Projekt ließe. Die SPD könnte sich etwa durch einen höheren Mindestlohn und mehr öffentlich geförderte Wohnungen profilieren. Bei den Grünen wären finanzierbare Vorgaben beim Umweltschutz denkbar, die sich möglicherweise als Exportschlager für eine „grüne" deutsche Wirtschaft erweisen. Die FDP könnte sich zur Bannerträgerin für Technologie und Innovation aufschwingen.
Ob eine Ampel Erfolg hätte, hängt insbesondere von zwei Fragen ab. Sie gelingt nur, wenn eine Streitkultur einzieht, in der Respekt ganz oben steht und Partei-Egoismen gezähmt werden. Zweitens müssen Kompromisse zwischen zwei völlig unterschiedlichen Ansätzen der Finanzpolitik zustande kommen: höhere Steuern und mehr Staatsausgaben (SPD und Grüne) auf der einen sowie Steuersenkung und Haushaltsstabilität (FDP) auf der anderen Seite. Ein schwieriger Balanceakt, an dem Rot-Grün-Gelb auch scheitern kann.