Die Band Revolverheld legt mit „Neu erzählen" gerade ihr sechstes Studioalbum vor. Frontmann Johannes Strate (41) erzählt im Interview, wie das neue Werk klingt, warum sich Engagement lohnt und wieso Nena der Konzertbranche schadet.
Herr Strate, Sie singen auf dem neuen Album: „Ich will mich nicht mehr mit alten Sachen quälen und neue Wege gehen/nicht mehr in alten Wunden wühlen". Bezieht sich das auch auf die Band oder Sie persönlich?
Es geht in dem Text in erster Linie um eine Paarbeziehung. Das Lied schließt an einen Song von unserem letzten Album an, der da heißt: „Unsere Geschichte ist erzählt". Freunde meinten, dieses Lied über das Ende einer Beziehung sei so traurig, dass sie es sich kaum anhören könnten. Irgendwann habe ich mir gedacht, dieses Paar, das am Ende ist, kann sich auch neu erzählen. Aber das kann man natürlich auf vieles beziehen. Auf uns als Band, die immer wieder Lust hat, Neues zu entdecken, oder auf unsere Gesellschaft und unsere Welt. Wenn wir uns nicht jetzt neu erzählen, werden wir dazu bald nicht mehr die Gelegenheit haben.
Ist unsere Gesellschaft dazu fähig, sich neu zu erfinden?
Es ist erschreckend zu sehen, wie wir Probleme haben, Altes, Überholtes, Problematisches und sehr Umweltschädliches loszulassen. Es scheint uns immer noch wichtiger zu sein, dass genügend Autos vom Band laufen, als dass wir ernsthaft anfangen, die Klimakatastrophe abzuwenden. Bemerkenswert naiv, wie wir sehenden Auges ins Messer laufen. Fast schon faszinierend, wenn es nicht so tragisch wäre.
Können Sie mit Ihrem achtjährigen Sohn über so ernste Probleme wie die Klimakatastrophe sprechen?
Total. Die Generation, die gerade aufwächst, weiß voll Bescheid. Seit ihrer Geburt sind Autoabgase, das Klima und die Ozonschicht ein Thema. Mein Sohn sagt mir, dass Plastikverpackungen schlecht sind, weil sie im Meer und in den Mägen der Fische landen. Und dann essen wir das wieder.
Macht es Ihnen etwas aus, diesen Planeten vielleicht verlassen zu müssen, bevor er so weit wieder hergestellt ist, dass Ihr Sohn überleben kann?
Das ist das Verantwortungsloseste, was wir machen können. Wir wirtschaften den Planeten runter, müssen das aber nicht selbst ausbaden. Das ist in der Tat schwierig.
Ist das für Sie sehr desillusionierend?
Natürlich kann man nicht aufhören, sein Leben zu leben. Es ist ja niemandem damit geholfen, wenn man nichts mehr tut. Jeder muss sich jetzt die entscheidenden Fragen stellen: Wie kann ich mein Verhalten beziehungsweise mein Leben ändern? Viel wichtiger noch ist, dass die Politik der Industrie finanzielle oder steuerliche Anreize bietet. Kein Unternehmen hat Interesse daran, die Rettung der Welt über seinen Profit zu stellen.
Machen Sie sich als Band darüber Gedanken, wie man möglichst emissionsfrei auf Tour gehen kann?
Wir machen uns Gedanken darüber, wie man so wenig wie möglich CO2 verbrauchen kann. Das ist in der Tat nicht ganz einfach. Wir sind dazu stetig im Austausch mit Menschen, die sich intensiv damit beschäftigen, wie man das Tourleben nachhaltig gestalten kann. Zum Beispiel eben nicht fliegen oder mit mehreren Pkw reisen, sondern wo irgendwie möglich mit der Bahn fahren oder zumindest alles so organisieren, dass möglichst ein Bus mit allen zusammen unterwegs ist. Wir achten auch darauf, dass unser Catering keine weiten Wege hinter sich hat, sondern nachhaltig vom Bauern nebenan kommt. Einwegplastik ist auf unseren Konzerten weitestgehend verboten.
Rechnen sich Auto-, Strandkorb- oder Picknickkonzerte eigentlich für eine Band?
Seit der Pandemie steht der finanzielle Aspekt hinten an. Ich merke auch, wie unglaublich gerührt die Menschen darüber sind, dass da wieder eine Band spielt. Aber natürlich steht bei uns eine große Crew in Lohn und Brot. Letztes Jahr haben wir uns alle mit der neuen Situation arrangiert.
Ich fand es faszinierend, wie anpassungsfähig man ist. Aber wenn man etwas Liebgewonnenes wie Konzerte zurückkriegt, merkt man, wie sehr es einem gefehlt hat.
Was treibt den Künstler-Zorn gegen die Corona-Maßnahmen? Geht es einigen nur ums Ego?
Niemand wird gezwungen, dieses Jahr Konzerte zu spielen. Viele kleine Acts würden sich wünschen, aufzutreten, aber sie finden keinen Veranstalter, der mit Sicherheit 1.000 Tickets verkauft. Deswegen werden nur die großen Acts gebucht. Wenn man sich dafür entscheidet, muss man sich auch damit arrangieren, was man da unterschrieben hat. Solch eine Aktion wie Nena zu machen, ist nicht cool und vor allem ein Schlag ins Gesicht aller Veranstalter, die dieses Jahr ins Risiko gehen und es möglich machen, dass Künstler und Künstlerinnen auftreten können. Und was Helge Schneider betrifft: Ich finde, bei solch einem Konzert muss man sich – wie sonst auch – vorher überlegen, ob man es machen möchte und dann aber auch durchziehen. Auch wenn man beim zweiten Song merkt, dass das Konzept für einen nicht funktioniert. Dabei kann man nicht nur an sich selber denken. Da gehen ja auch Leute hin, für die dieser Abend nach zwei Jahren Scheißleben mal wieder eine Entlastung bedeutet. Viele junge Bands hätten diesen Slot sofort übernommen.
Mit „Nicht so wie die" sagen Sie, dass Sie nicht zu denen gehören, die aufgeben, wenn es hakt. Die festhalten an einem Plan, von dem sie nie wussten, wofür er eigentlich war. Die irgendwie schräg sind und nicht gerade. Sind das Eigenschaften, die Künstler auszeichnen?
Das ist generell das, was Künstler und Künstlerinnen auszeichnet. Man muss schon ganz schön irre sein, es in diesem Bereich ernsthaft zu versuchen, wo doch jeder weiß, wie gering die Chancen sind, dass man im Endeffekt davon leben kann. Aber dieser Song ist auch auf ein Liebespaar gemünzt, das von außen immer gesagt bekommt, was es zu machen hat. Die beiden machen es aber lieber so, wie sie es für richtig halten, weil sie ein bisschen anders sind als die Masse.
In „Keine Zeit" listen Sie vieles auf, für das Sie keine Muße haben. Gewöhnt man sich daran, auf bestimmte Dinge verzichten zu müssen?
Man gewöhnt sich daran, flexibel zu sein und für bestimmte Dinge keine Zeit zu haben. Manchmal hat man für Freunde wahnsinnig viel Zeit, und manchmal ist man monatelang unterwegs. Der Song handelt auch von der Überforderung unserer Gesellschaft. In einem Umfeld, in dem man ständig irgendetwas plant und laufend E-Mails eingehen, werden viele Aufgaben nur halbgar erledigt. Eigentlich hat jeder beruflich immer zu viel auf der Agenda. „Ich habe keine Zeit" ist ein ganz gängiger Begriff. Schade, dass wir da als Gesellschaft hingerutscht sind. In meiner Branche ist es gang und gäbe, dass die Menschen zu viel zu tun haben und permanent überfordert sind.
Müssen Sie in Ihrer Position für bestimmte Leute immer erreichbar sein?
Nein, das muss ich nicht. (lacht) Ich habe Leute, die stellvertretend für mich immer erreichbar sind. Aber für meinen Sohn bin ich schon immer erreichbar.
Wie hat bei Ihnen persönlich das „Abreißen und neu bauen" in der Zeit des Lockdowns funktioniert?
Es war eher das Adaptieren einer neuen Situation. Ich musste nicht drastisch mein altes Leben hinter mir lassen, aber ich kann mich schon gut in neuen Situationen zurechtfinden. Das ist durchaus spannend.
Natürlich habe ich mir die Pandemie nicht gewünscht, aber ich konnte damit ganz gut dealen. Wir als Band übrigens auch. Jeder von uns hat sich sofort ein kleines Recording-Set angeschafft, und wenn Kris und ich einen neuen Song geschrieben hatten, konnte Jakob im Zweifel am nächsten Tag darauf Schlagzeug spielen. Wir sind über die Jahre viel flexibler geworden.
Es heißt, Karriere machen die Flexiblen, nicht die Pünktlichen. Ist da was dran?
In unserer Branche ist das definitiv so. (lacht) Pünktlichkeit bringt dir da gar nichts. Außer vielleicht bei einem Interview. Aber wenn ich mich eine halbe Stunde verspäte, denkt der Journalist auch: Ach ja, diese Künstler! Wir werden immer damit entschuldigt, kreative Chaoten zu sein. Das mag ich überhaupt nicht, weil ich eigentlich nicht vercheckt bin.
Wird die Unterhaltungsbranche sich von der Corona-Krise je wieder erholen?
Das ist die große Frage, die wir uns alle stellen. Die Konzerte dieses Jahr sind auf jeden Fall ein wichtiger Schritt. Aber allein drei Mitglieder unserer Crew haben sich mittlerweile in andere Jobs verabschiedet. Irgendwann werden alle Acts wieder touren wollen, und dann ist vielleicht kein Backliner mehr da. Ich denke aber, dass die Veranstaltungsindustrie sich auf irgendeine Art und Weise erholen wird, weil alle Menschen gern auf Events gehen.
Wundert es Sie, dass es so viele Enttäuschte, Verunsicherte und Unzufriedene gibt, die Orientierungslosigkeiten und Ungerechtigkeitsgefühle entwickelt haben?
Das wundert mich überhaupt nicht. Eine ungerechte Umverteilung in der Welt ist schon seit 20, 30 Jahren spürbar. Corona beschleunigt diese Entwicklung. Dass sich viele Menschen in der Corona-Krise verunsichert und zurückgelassen fühlen, kann ich nachvollziehen.
Es besteht die Gefahr, dass die in der Pandemie gebildeten rechten und populistischen Gegenkulturen und -milieus wachsen. Wie soll die Demokratie damit umgehen?
In Krisenzeiten werden die Extreme immer größer. Eine Demokratie muss das auf eine gewisse Art tolerieren und viel Aufklärung betreiben. Die großen Parteien müssen aufhören, abgehoben zu sein und nur für eine gehobene Mittelschicht zu regieren. Sie müssen sich auch um die „kleineren" Probleme kümmern. Es wird eine spannende Bundestagswahl. (Das Interview wurde vor der Wahl geführt, Anm. d. Red.) Aber die AfD hat keine Chance, weil sie keinerlei Lösung anbietet. Interessant wird es, wie es sich unter den großen Parteien aufteilt, zu denen ich auch die Grünen zähle. Es wird sicherlich auf eine spannende Koalition hinauslaufen. Die größte Bedrohung ist die Klimakatastrophe. Da ist es an der Zeit, die Partei, die sich seit 40 Jahren damit beschäftigt, mit in die Regierung zu lassen. Ich wünsche mir sehr, dass das Umweltressort in grüne Hände kommt.
Was, glauben Sie, macht die „Querdenker"-Bewegung für ihre Anhänger so attraktiv?
Erst einmal, weil da jeder mitmachen kann. Egal welcher Couleur, Hauptsache dagegen. Das ist so einfach, da müssen keine Lösungen angeboten werden. Wenn man aufhört, an Wissenschaft und Fakten zu glauben, ist vieles möglich. Das haben wir an den USA gesehen. Viele Dinge sind so fürchterlich, dass man sie psychologisch nicht verarbeiten kann und mit der Wahrheit überfordert ist. Deshalb sucht man sich einfach aus dem Internet das heraus, was einem gut gefällt und glaubt daran. Das Querdenkertum ist ganz schön skurril.
Wie können Sie sich trotz allem Ihren Optimismus bewahren?
Das muss ich ja, sonst könnte ich die Flinte ins Korn werfen. Es gibt ja auch viele Leute, die an guten Sachen arbeiten wie Klimaprojekten. Revolverheld zum Beispiel sind WWF-Botschafter im Kampf gegen den Plastikmüll in den Meeren und versuchen, hinter den Kulissen Projekte anzuschieben. Es gibt auch Leute, die CO2-Aufnahmegeräte erfinden oder an Impfstoffen gegen Krebs arbeiten. Vielleicht wird ein Grüner Umweltminister. Sogar Präsident Trump ist weg. Auf diesem Planeten passiert auch wahnsinnig viel Gutes. Darin muss man seine Hoffnungen legen.