Der aus dem fränkischen Zeil am Main stammende Soziologe Claus Tully, bekannt als Sachbuchautor, ist unter die Romanciers gegangen: Sein Buch „Auf dem Weg in die neue Heimat. Liesls Eldorado" handelt von seiner Tante aus Steinbach bei Zeil, die zwischen den Weltkriegen nach Argentinien auswanderte.
Die Geschichte um die Tante und die fernen Verwandten in Argentinien hat ihn seit frühester Kindheit geprägt: „Wer hat schon Familienmitglieder, die so weit entfernt in Südamerika leben?", erinnert sich Claus Tully an die Gedanken, die er als Zeiler Volksschüler hatte. „Das war damals etwas ganz Besonderes." Fortan ließ ihn diese Faszination nicht mehr los. Es folgten Lehrjahre als angehender Maschinenschlosser bei der Firma Kugelfischer in Eltmann, die Berufsschule und später das Abi auf dem zweiten Bildungsweg in Haßfurt. Lernen wollte der junge Mann unbedingt, und außer dem Tanzkurs war wenig Platz für weitere Freizeitaktivitäten.
Ab 1968 studierte er Soziologie und Volkswirtschaftslehre in München. „Die ersten Wochen im Herbst wurde die Uni bestreikt. Ein typischer 68er war ich nie!", schmunzelt er. Nach dem Studium arbeitete er am Deutschen Jugendinstitut in München. Danach Promotion und Habilitation in Berlin. Mit etwas Geld in der Tasche und genügend Zeit wollte er sich seinen großen Traum erfüllen: eine lange Reise durch Argentinien. Als Soziologe interessierten ihn damals vor allem biografische Interviews mit Auswanderern unter dem Aspekt, ob der Besitz von zwei Pässen überhaupt legal sei. „Jeder deutsche Immigrant besaß damals den deutschen und argentinischen Ausweis", erklärt der 71-Jährige. „Meine Forschung bezog sich auf die Ereignisse eines Lebensentwurfs und die gesellschaftlichen Verhältnisse in der Wahlheimat."
1999 entstand ein größerer Artikel, der im Fränkischen publiziert wurde. Und damit der Wunsch, ein Buch zu schreiben. „Meine Protagonisten waren zweifellos Liesl und meine Verwandte Betty." Mittlerweile hatte die Tante die Familie in Steinbach besucht, war nach Argentinien zurückgekehrt und dort verstorben.
„Während ihres Besuches in der Heimat lernte ich sie kennen. Sie hat mich ganz und gar nicht beeindruckt", betont der Wahl-Münchner. Doch je mehr er sich mit der Familiengeschichte befasste, umso größer war die Faszination. Hinzu kamen sein Wissen um das Leben in Argentinien und seine Sympathie für die Menschen vor Ort. „Diese Hilfsbereitschaft und Schönheit des Landes", schwärmt Tully.
Er hatte intensiv Spanisch gelernt und konnte Vorlesungen schließlich auch in der fremden Sprache halten. Der Unterfranke lehrte ab 2003 als Privatdozent an der FU Berlin und als Professor an der FU Bozen. Die Uni in Bozen ist durch den Südtiroler Sonderstatus dreisprachig. „Ich habe das Privileg, als Gastprofessor der täglichen Routine zu Hause ab und an zu entfliehen."
Er arbeitete weiter an seiner Familiengeschichte: Tante Liesl ging einst wegen ihres Verlobten nach Argentinien. Die bittere Enttäuschung, die sie nach Ankunft erlebte, als ihr Liebster eine andere hatte, ist unschwer vorzustellen. Trotzdem blieb die Unterfränkin in ihrem selbstgewählten Eldorado.
Inspiriert durch die Familiengeschichte
Später traf der gebürtige Franke den Sohn ihres früheren Verlobten. Dieser erzählte, dass ihm einst Liesl ein Stofftier aus Europa schenkte, das er während seiner ganzen Kindheit behielt. „Der Umstand, dass eine junge heimatlose Frau in den späten 1930er-Jahren diese Großzügigkeit besaß, über ihre Enttäuschung hinweg dem Kind ein Spielzeug zu schenken, hat mich beeindruckt." Und dieses Gespräch sei schließlich auch zum Schlüsselerlebnis seines Romans geworden.
Fokussiert auf Beschreibungen „des Lebens drüben und hier" recherchierte er genaue Bilder vor Ort in Buenos Aires: „Das Postamt, den Hafen, die Stadtteile und die Sprachbegriffe der 1930er-Jahre. Mein Werk macht den Unterschied zu vielen anderen Büchern, die zwar in Argentinien spielen aber überall angesiedelt sein könnten."
Seine Zweifel, ob die Recherchen für ein Buch reichen, legten sich schnell. Vor wenigen Wochen ist das Werk erschienen. Eine Herzensangelegenheit für Tully: „Schade, dass Tante Liesl und Betty nicht mehr leben. Auf ihre Reaktionen wäre ich gespannt gewesen."
Auch für Claus Tully, dessen Vorfahren aus Südtirol über Bamberg nach Zeil am Main einwanderten, schließt sich der Kreis: Noch in diesem Jahr wird er zurück in seine unterfränkische Heimat ziehen. Sein neues Domizil ist eine denkmalgeschützte Scheune im Zentrum von Königsberg, die gerade renoviert wird. „Neben der Kirche ist es das älteste Gebäude vor Ort, erbaut um 1560", ergänzt er. Er freut sich auf das Leben in dem idyllischen Fachwerkstädtchen, das ihm genügend Zeit lassen wird, sich auch weiterhin mit Tante Liesl, ihrem Eldorado und dem einen oder anderen Thema des fränkischen Lebens zu beschäftigen.