Die indigene Bevölkerung Kameruns lebt ohne medizinische Versorgung. Deshalb leiden Menschen an schweren Infektionen, die eigentlich leicht zu heilen wären. Der 65-jährige Schweizer René Stäheli kämpft mit seiner Organisation gegen die Armutskrankheiten an.
Jemand muss sich kümmern, um die Kranken in den verborgenen Winkeln der Welt. Also stapfen René Stäheli und seine Leute mal wieder mit festem Schuhwerk durch den Dschungel im Osten Kameruns. Mit einheimischen Ärzten und Gesundheitshelfern folgt der 65-jährige Schweizer einem kaum sichtbaren Pfad, zwischen Baumstämmen, Stauden und hängenden Lianen. „Ob die Menschen hier krank sind oder nicht, geht auch uns in Europa an", sagt Stäheli, vorschriftsgemäß mit OP-Maske über Mund und Nase. „Corona sollte uns gelehrt haben, dass wir Gesundheit global denken müssen." Laut tönt der tiefgrüne Wald. Stäheli hört Zirpen und Zwitschern, bald auch ein Trommeln aus der Ferne. Frauengesänge hallen durch das hohe Blätterdach. Drängendes Jodeln formt schräge Harmonien. Fast sind sie am Ziel.
Vernachlässigte Tropenkrankheiten
René Stäheli leitet Fairmed, eine Schweizer Non-Profit-Organisation zur Bekämpfung von Armutskrankheiten. Im Grunde ist sein Team hier, weil die Vereinten Nationen einen Jahrhundertbeschluss gefasst haben: Sie wollen allen Menschen einen Zugang zu medizinischer Versorgung verschaffen. Über Programme der Weltgesundheitsorganisation (WHO) wollen sie Epidemien beenden, Tropenkrankheiten ausrotten, die Kinder- und Müttersterblichkeit senken sowie globalen Gesundheitsrisiken vorbeugen. Dies ist Teil ihrer Agenda 2030 für nachhaltige Entwicklung, einem monumentalen Katalog guter Vorsätze für eine bessere Welt, von der Hungerbekämpfung bis zum Klimaschutz. Das zentrale Versprechen: Leave no one behind. Niemand darf auf der Strecke bleiben, egal wo. Die komplexe Wirklichkeit hinter dieser einfachen Lösung kennen sie bei Fairmed nur zu gut. Der Dschungelpfad soll sie zu einem Camp der Baka führen, einem indigenen Pygmäenvolk, das traditionell in den Wäldern Zentralafrikas lebt und gerne mal die Standorte wechselt. Die Holzwirtschaft zerstört allmählich den Lebensraum ihrer Vorfahren. So siedeln die Baka – außer wie hier im Wald – auch an der Landstraße, einer Schneise aus roter Erde, die sich durch die grüne Tropenregion zieht. Ihre Dörfer und Camps sind nirgends registriert, die Bewohner werden bei Impfkampagnen und Behandlungsrunden vergessen oder sind oft nicht anzutreffen, weil sie auf der Jagd sind. Den anderen Volksgruppen gelten sie als Außenseiter oder gar Menschen zweiter Klasse. Sie fallen durch die Maschen eines maroden Gesundheitssystems.
Stäheli und seine Leute wollen das ändern. Sie setzen bei denen an, die am schwersten zu erreichen sind: Seit zwölf Jahren arbeitet Fairmed mit Pygmäenvölkern in Zentralafrika. Sie haben etwa indigene Frauen zu Hebammen ausgebildet, um die hohe Müttersterblichkeit zu senken und in Dörfern selbstverwaltete Gesundheitsfonds eingerichtet, die als Krankenversicherung fungieren.
Die nächste Mission ist schon im Entstehen: Fairmed leitet ein Programm, das in Kamerun und den angrenzenden Regionen des Kongo und der Zentralafrikanischen Republik die Frambösie ausrotten soll. Die bakterielle Infektionskrankheit wird als himbeerroter Ausschlag sichtbar. Unbehandelt frisst sie sich durch das Fleisch, deformiert Gelenke und hinterlässt Verstümmelungen, die aussehen wie Kriegsverletzungen. Doch sie ist seltener und weniger tödlich als etwa HIV oder Malaria. Betroffen sind die Ärmsten der Armen. So findet sie in den Budgets von Ministerien und Entwicklungshelfern kaum Beachtung. „Frambösie wird vernachlässigt, weil sie vernachlässigte Menschen befällt", sagt René Stäheli. Sie beginnt dort, wo die Straßen enden. Die Weltgesundheitsorganisation (WHO) schätzt, dass weltweit über eine Milliarde Menschen mit mindestens einer der sogenannten Vernachlässigten Tropenkrankheiten infiziert sind. Das Jodeln schwillt an und mit ihm die Trommeln. Stäheli balanciert über einen Baumstamm, der über ein Bächlein führt und tritt auf eine Lichtung. Hier werden die Besucher erwartet. Die Frauen der Baka tragen Farnblätter um Kopf und Hüften, manche schlagen den Rhythmus mit Stöcken auf Plastikkanistern. Sie tanzen inmitten kleiner Hütten aus Ästen und Blättern, vor denen Feuer schwelen. „Diese Leute sind immer fröhlich", sagt Dr. Alphonse Um Boock, Arzt und Berater bei Fairmed, der aus der Hauptstadt Jaunde angereist ist. „Sie leben ein einfaches Leben und haben keine Probleme." René Stäheli runzelt die Stirn: „Wenn Du wissen willst wie es den Baka geht, dann musst Du sie schon selbst fragen." Ein bisschen sagt er das ja auch zu sich selbst.
Wie hilft man Leuten, die einem bisweilen ein Rätsel sind? Wie dämmt man Krankheiten in maroden Systemen ohne Versicherung ein, wenn die eigenen Mittel knapp sind? Und wie vermeidet man es, dabei als der weiße Retter aufzutreten, der mal kurz im Jeep vorfährt und die Welt erklärt? Vielleicht ist Stähelis Arbeit als ein Ringen um Antworten auf diese Fragen zu verstehen.
Die Baka sind kleinwüchsige Jäger und Sammler, die sich im Dschungel mindestens so gut zurechtfinden, wie der große, stoische Schweizer in seiner Heimatstadt Bern. Sie sind mit den Geistern des Waldes im Bunde, Krankheiten begegnen sie mit Beschwörungen und den pflanzlichen Mitteln ihrer Ahnen. René Stäheli wiederum konnte zwischen Nepal und der Küste Kameruns noch keinen Schamanen finden, der ihn von übersinnlichen Kräften überzeugt hätte.
Nicht alle Menschen kann man erreichen
Nacheinander werden Kinder mit rötlichem Ausschlag auf Frambösie getestet. Das Geschrei ist groß, denn die Ärzte müssen je einen Tropfen Blut aus den Daumenspitzen entnehmen. Weil die ersten Tests positiv sind, bekommen gleich alle Campbewohner eine Pille. Damit soll der Infektionszyklus durchbrochen werden. So hat Fairmed im Rahmen des Ausrottungsprogramms rund 600.000 Menschen mit dem Antibiotikum Azithromycin behandelt. Dass es jedoch fast unmöglich ist, alle Menschen in einer Region zu erwischen, zeigt sich auch bei diesem Einsatz: Mehr als die Hälfte der Campbewohner ist gerade unterwegs zum Jagen oder Fischen. Fairmed lässt für jeden der Abwesenden je eine Tablette da. Die Organisation hat in den Gemeinschaften Tausende Gesundheitsbeauftragte ausgebildet, die auch die Einnahme begleiten können. Vor allem aber fungieren sie als Brücke zur Außenwelt und melden weitere Verdachtsfälle.
Öfter schon habe man sich in falscher Sicherheit gewiegt, etwa bei Lepra, Pest, Polio oder vor Jahrzehnten auch bei der Frambösie. Ausrotten hieße eben: Mit extremem Aufwand flächendeckend weiter überwachen, testen und behandeln – bis keine einzige Neuinfektion mehr zu verzeichnen wäre. In der Realität wenden sich Gesundheitsministerien mit knappen Budgets vorher aber lieber dem Kampf gegen andere, akut gefährlichere Erreger zu. Durch diese kurzfristigen Kosten-Nutzen-Rechnungen sind Massenbehandlungen zunächst sehr wirksam, doch am Ende wenig nachhaltig. „Das ist, wie wenn ein Haus brennt und Du löschst 90 Prozent. Dann überwachst Du es noch eine Weile – aber nur dort, wo Du gelöscht hast", sagt Stäheli. Irgendwann kommt das Feuer zurück.
Um die Situation der Baka besser zu begreifen, will René Stäheli mit einer Gruppe in den Wald gehen. Nicht als Leiter einer medizinischen Hilfsorganisation, sondern als Gast. Er fährt in das Baka-Dörfchen Mbalam, einer kleinen Ansammlung von Lehmhütten, die nirgends offiziell eingetragen ist. Die Blätterdächer sind rot vom Staub der großen Straße. Der 35-jährige Herve Sam eilt herbei und begrüßt Stäheli per Handschlag, gefolgt vom ganzen Rest seines Dorfes. Sam ist bei Fairmed angestellt. Er besucht vor Behandlungsrunden andere Baka-Dörfer und Camps, um Termine anzukündigen, Fragen zu beantworten und Menschen zur Teilnahme zu motivieren. „Ihr müsst heute nicht tanzen wegen mir", sagt Stäheli, als die ersten Trommelschläge erklingen. Ein alter Mann aus der Menschentraube erwidert: „Es ist unmöglich, nicht zu tanzen, wenn wir Besuch bekommen." Ein Becher mit vergorenem Palmsaft macht die Runde.
Ein Geist soll den Helfer beschützen
Von hier aus können sie dem Regenwald beim Verschwinden zusehen: Stunde um Stunde donnern die Laster über die Straße, schwer beladen mit gigantischen Baumstämmen für den Export. Kamerun ist der Holzumschlagplatz Zentralafrikas, Millionen Kubikmeter werden von hier aus jährlich auch nach Europa verschifft. Die Baka sind hier draußen wie Gestrandete in einer fremden Welt: Wilde Tiere als Nahrung gibt es nicht. Selbst für die Jagd im Wald gelten wegen kommerzieller Wilderer mittlerweile strenge Auflagen. Das ganze Leben kostet also Geld – Reis und Kochbananen, Schnaps und Tabak, der lange Schulweg der Kinder nach der Grundschulzeit. Das nächste Gesundheitszentrum ist 25 Kilometer entfernt. Wenn die Baka dort hinwollen, ist es meist schon ein Notfall. Oft scheitert eine Behandlung dann an Fahrtkosten oder dem Geld für Medikamente.
Die Lebensumstände der Menschen zu verbessern ist die beste Medizin. Im Falle der Pygmäenvölker ist das besonders schwer: Ihre Bildungschancen sind deutlich geringer als die der anderen Volksgruppen, und in Teilen Zentralafrikas werden sie von ihnen noch immer als Sklaven gehalten. Sich durch Landwirtschaft selbst zu versorgen, haben die Baka nie gelernt. Für wenige Cent am Tag und ein paar Maniokwurzeln schuften sie stattdessen auf den kleinbäuerlichen Plantagen der Bantu. Für René Stäheli ist das schwer zu begreifen.
Stäheli hat Agrarökonomie studiert. In seinen Zwanzigern vertrieb er in Zentralafrika Pflanzenschutzmittel für einen Schweizer Konzern. Er wickelte Millionengeschäfte ab zu Zeiten, als Unternehmen Schmiergelder noch von der Steuer absetzen konnten und lebte in einem Weißenviertel in Jaunde. An den Wochenenden langweilte er sich beim Golfspielen. Dann suchte er das Abenteuer und fand es auf Angeltouren entlang des Sanaga, die ihm auch die große Ungleichheit im Land vor Augen führten. Eines Tages hatte er genug von der Industrie, die mit verbotenen Absprachen die Preise für ihre Produkte in Afrika in die Höhe trieb. Er kündigte. Den Blick des Agrarökonomen aber hat er behalten: Immer wenn er nach Mbalam kommt, bringt er eine Handvoll Samen mit: Kakao, Papaya und Corosolle, eine grüne Stachelfrucht mit weißem Fleisch, Samen der Sapote-Beere und Mangosorten von seinen beruflichen Reisen nach Indien. Er versucht, im Dorf eine Idee zu pflanzen – auch wenn einige hier lieber eine Stange Zigaretten oder etwas Hochprozentiges hätten.
Ganz Mbalam liebt das Trinken. In der Dämmerung gießt ein junger Mann selbstgebrannten Schnaps aus einem Plastikkanister in die Becher der tanzenden Menge. Sie drängeln, zetern, schubsen und empfangen ihre Rationen dann wie heilige Sakramente. Frauen trinken mit einem Zug aus, während ihnen Babys an der Brust hängen. Gerade als die Stimmung überzukochen droht, erscheint der Waldgeist inmitten des Tumults. Er kommt zu Ehren des Schweizers, der in seine Welt eintauchen möchte. Größer als die Baka ist er und ganz bedeckt von einem blickdichten Bastgewand. „Wer steckt da drunter?" will René Stäheli wissen. Herve Sam scheint die Frage nicht zu verstehen. „Niemand", sagt er. „Das ist doch ein Geist." Sie nennen ihn den Alten. Er hat sie beschützt, als sie noch im Dschungel lebten. Er ist ihnen hinaus gefolgt und, nun ja, tut seitdem, was er kann. Sie sagen, er wird Acht geben, dass Stäheli im Wald nichts passiert. Der Geist und der Schweizer ergänzen sich gut. Wo die Macht des einen endet, beginnt die Arbeit des anderen.
Der erste Weg in den Dschungel ist eine Schneise der Holzfirma. Arbeiter haben sie kilometerweit ins Grün geschlagen, breit genug für einen Lastwagen. Für jeden gefundenen Urwaldriesen wird so ein Teil des Ökosystems zerstört. „Es tut weh, das zu sehen", sagt der 36-jährige Francois Bija mit seinem selbst gebauten Gewehr in der Hand. Die Schneisen verändern die Flussläufe und schneiden die unscheinbaren Pfade der indigenen Bevölkerung. Wo das Blätterdach durch Baumschlag gelichtet wird, wächst am Boden dichtes Gestrüpp nach. „Noch finden wir hier alles was wir brauchen", sagt Bija. „Doch der Wald verändert sich. Und eines Tages wird er verschwunden sein."
Die alte Welt gerät in Vergessenheit
Im Gänsemarsch biegt die Gruppe ab und verschwindet auf einem Pfad ins Unterholz. Die Baka schleppen Stähelis Gepäck, ihre Babys, große Körbe mit Kochtöpfen, Reissäcke und Wasser. An den Füßen tragen sie nur Flipflops, doch bewegen sie sich scheinbar mühelos durch das unwegsame Terrain. René Stäheli hat sein Outdoorhemd durchgeschwitzt und hinkt schon etwas hinterher. Lianen hängen im Weg, Dornenäste greifen nach ihm und krallen sich in seine Haut. „Hier sieht man, warum Kleinwüchsigkeit im Wald ein Selektionsvorteil ist", sagt er. Noch immer hat er die schwarze Farbe auf dem Leib. Die Baka haben ihn am Vorabend einem Initiationsritual unterzogen, in dessen Verlauf er bemalt wurde, halbnackt aus einem brennenden Waldiglu flüchten und – zum Zwecke der Wiedergeburt – zwischen den Beinen einer Frau hindurchkriechen musste. Ein Geflecht loser Bänder um seinen Oberkörper soll ihn unsichtbar werden lassen, falls ihm im Wald jemand was antun möchte. Nach einem halben Tag erreichen sie eine Lichtung, die sie rasch mit Macheten roden.
Wenig später stehen die ersten Waldiglus, und der Geruch von Feuer liegt in der Luft. Jene, die gestern noch getrunken und miteinander gestritten haben, werden ruhig und besonnen. Alle scheinen zu wissen, was sie zu tun haben, wie in einer Jahrhunderte alten Choreografie, die keiner Worte mehr bedarf. Bald ist der unterirdische Bau einer Palmratte ausgeräuchert, und das Tier brutzelt im Kochtopf, neben einer Handvoll Riesenmaden. Einer der Männer bringt eine enthauptete Gabunviper herbei, lang wie das Bein eines Westeuropäers. Francois Bija sortiert die Patronen für die nächtliche Antilopenjagd und Herve Sam schlägt mit der Machete Stücke aus der Rinde eines Baumes, die sie als Gewürz benutzen. Die Rollen von René Stäheli und den Baka haben sich umgekehrt. Hier, im Wald, sind die Baka die Experten für das Wohlergehen.
Doch ihre alte Welt gerät in Vergessenheit. Während die Großeltern der Baka im Wald noch zu Hause waren, kommen die Kinder aus Mbalam fast nur noch in den Schulferien her. Und weil nur ein Träumer glauben kann, dass die Menschen einfach so aufhören den Regenwald zu roden, gibt es wohl auch kein Zurück mehr.
Eigentlich sei die Bekämpfung sozialer Probleme und der Armut ja nicht seine Aufgabe, sagt René Stäheli. Mit Fairmed soll er lediglich deren Symptome lindern. Doch es lässt ihm keine Ruhe. Die Frage, die über die Zukunft und die Gesundheit der Baka entscheidet ist: Wie kann der Übergang in die neue Welt gelingen? Nach dem mehrtägigen Dschungeltrip führt Herve Sam den Schweizer zum halb fertigen Haus seiner Familie hinter dem Dorf. Es besteht aus unverputzten Steinen und hat ein Wellblechdach. Wann immer Zeit und etwas Geld von seiner Festanstellung bei Fairmed übrig hat, baut er daran weiter. Daneben, auf einem Acker unter Bananenstauden und Palmen, gedeihen die Pflanzen der Hoffnung: Sam hat die Kakaosamen von René Stäheli eingepflanzt. Sie reichen ihm schon bis zur Hüfte. Am besten gedeihen sie im Schatten größerer Pflanzen und Bäume – in einer Mischung aus Landwirtschaft und Wald. In einigen Jahren tragen sie die ersten Früchte, für die man auf den Märkten der Region gute Preise erzielen kann. „Vielleicht brauchen wir viel mehr Leute, die es so machen wie Herve", sagt Francois Bija, der den beiden gefolgt ist und sie aufmerksam beobachtet hat. Dann kniet er sich hin und beginnt am Fuße einer Kakaopflanze das Unkraut zu rupfen.