Moderne Fahrzeuge sammeln unablässig Daten über ihre Insassen und deren Fahrstil. Manche Fahrer filmen sogar freiwillig ihre Umgebung – willkommene Beweismittel vor Gericht, die aber nicht immer zulässig sind.
Berlin, Juni 2019. Ein Tesla fährt durch eine Nebenstraße im Bezirk Tempelhof. Am Straßenrand stehen geparkte Autos, auf dem Bürgersteig schnüffelt ein Hund an einem „Vorfahrt gewähren"-Schild. Während der Tesla langsam in die Kreuzung einfährt, rast von rechts plötzlich ein Motorrad heran, zu spät für jedes Bremsmanöver. Der Motorradfahrer knallt seitlich gegen das Auto, überschlägt sich, noch in der Luft verliert er seinen Helm. Der Mann überlebt schwer verletzt.
Vor Gericht sieht es zunächst nach einem Vorfahrtsverstoß aus. Das Motorrad kam von rechts, der Tesla hätte warten müssen. Doch dann fragt die Berliner Amtsanwaltschaft bei Tesla nach, ob das Unternehmen Erkenntnisse zum Unfallgeschehen hat. Tatsächlich liefert der Konzern eine Reihe von Videos. Sie zeigen, wie das Motorrad mit viel zu hoher Geschwindigkeit durch die Seitenstraße brettert: Der Tesla-Fahrer ist entlastet.
Nur wenige Monate später, im Januar 2020, ein anderes Szenario. Ein Mann rast mit über 160 km/h über die Prenzlauer Allee. Beim Abbiegen fliegt das Fahrzeug aus der Kurve und prallt gegen eine Ampel, der Fahrer flüchtet. Auch hier handelt es sich um einen Tesla, und auch hier wurde alles dokumentiert. Diesmal liefert der Hersteller nicht nur Videos, sondern weitere sekundengenaue Daten: Wann und wie stark wurden Gas und Bremse betätigt, wann öffneten sich die Türen? Sogar ein Video des Fahrers gibt es, aufgenommen mit der Frontkamera kurz vorm Einsteigen: Der Raser wird vom eigenen Auto überführt.
Was genau erfasst wird, bleibt vage
So unterschiedlich die Situationen und die Beteiligten auch sind: Sie zeigen, dass Autos als „Zeugen" vor Gericht immer wichtiger werden. Seit spätestens 2018 müssen Neuwagen EU-weit mit einer Sim-Karte ausgestattet sein. So lassen sie sich bei einem Unfall schnell orten. Doch moderne Fahrzeuge können dank Internet-Verbindung noch viel mehr: Updates herunterladen, Musik streamen, Videos aufzeichnen. Auch das Fahrverhalten wird minutiös gespeichert – Informationen, die Behörden gerne bei Ermittlungen verwenden.
Was genau erfasst wird, ist in den Nutzungsbedingungen meist nur vage formuliert. Bei Tesla gehören offensichtlich diverse Videos dazu, die automatisch auf die Firmenserver gelangen. Aber auch die Fahrenden selbst können die Aufnahmen auf einem USB-Stick speichern. Uwe Keim, ein Tesla-Besitzer aus der Nähe von Göppingen, vertraute lange auf diese Funktion. Als im März 2020 ein Auto vor ihm bei Rot über die Ampel fährt, schickt er das Video der Polizei. Er will ein couragierter Bürger sein und den Verkehrssünder melden.
Die Polizei bedankt sich, informiert aber gleichzeitig die baden-württembergische Datenschutz-Behörde. Diese schickt Keim einen vierseitigen Brief. Der Tenor ist klar: Wenn eine Kamera die Umgebung dauerhaft filmt, könne sich niemand „frei und ungezwungen bewegen", schreibt die Behörde. Dann folgt ein langer Fragenkatalog: Trifft es zu, dass Sie Überwachungskameras in Ihrem Kraftfahrzeug installiert haben? Wie viele? Werden die Aufnahmen gespeichert? Weisen Sie auf die Videoüberwachung hin?
Keim schaltet seinen Anwalt ein. Dieser kann ein Bußgeld abwenden, indem sein Mandant verspricht, die Dashcam-Funktion nicht mehr zu verwenden. Frustriert ist der Tesla-Fahrer trotzdem. „Ich hab was Gutes getan, aber danach selbst noch was auf die Mütze bekommen", sagt der 48-Jährige. Eine Stunde kann sein Auto filmen, bevor die Aufnahmen überschrieben werden. Selbst zehn Minuten seien aber zu viel, erwidert die Datenschutzbehörde. Erlaubt sei lediglich eine „kurzzeitige anlassbezogene Aufzeichnung". Aber was heißt das genau?
Matthias Lachenmann geht von einem Zeitraum von 30 Sekunden bis maximal einer Minute aus. Der Kölner Anwalt hat sich auf Videoüberwachung spezialisiert und Uwe Keim gegenüber der Datenschutzbehörde vertreten. Er schreibt auch einen Brief an Tesla, um den Konzern darauf hinzuweisen, dass die langen Speicherzeiten der Datenschutz-Grundverordnung widersprechen. Die Reaktion? Keine.
Stattdessen wälzt Tesla die Verantwortung auf seine Kunden ab. Im Handbuch heißt es unverblümt: „Sie sind für die Einhaltung aller örtlich geltenden Gesetze […] in Bezug auf Videoaufzeichnungen verantwortlich." Am Steuer soll man also selbst entscheiden, ob eine mitgelieferte Funktion erlaubt ist oder nicht. Für Laien ist das kaum machbar.
Tesla wälzt die Verantwortung ab
Eine ähnliche Situation gilt auch für nachträglich eingebaute Dashcams. Laut einem BGH-Urteil aus dem Jahr 2018 ist ihr Einsatz nicht grundsätzlich verboten. Aber sie dürfen auch nicht einfach stundenlang Unbeteiligte filmen. Allenfalls zulässig ist eine kurze Sequenz bei einem Unfall. Manche Dashcams können das. Sie lagern die Aufnahmen in einem Zwischenspeicher ab und speichern sie erst dann dauerhaft, wenn sie ein kritisches Ereignis vermuten – zum Beispiel durch ein abruptes Bremsmanöver oder wenn der Fahrer die Hupe betätigt.
Vor Gericht herrscht oft eine paradoxe Situation: Längere Videoclips sind verboten. Als Beweismittel werden sie aber trotzdem akzeptiert, so wie bei den eingangs erwähnten Fällen aus Berlin. Ob die Dashcam-Nutzer hinterher Ärger bekommen, hängt von der jeweiligen Staatsanwaltschaft oder Datenschutzbehörde ab. Manche belassen es bei einer Verwarnung oder unternehmen gar nichts, andere verhängen Bußgelder. Anwalt Lachenmann empfiehlt seinen Mandanten deshalb, Dashcams gar nicht zu nutzen.
Was zu der Frage führt: Warum darf ein Autokonzern eine Funktion anbieten, die illegal ist? Da Tesla seinen Deutschlandsitz in München hat, ist die bayerische Datenschutzbehörde zuständig. Die erklärt, man sei aktuell dabei, die Datenströme zu prüfen, die Teslas übertragen. Eigentlich zuständig sei aber das niederländische Datenschutzamt, da Tesla dort seinen Europasitz hat. Die Behörde antwortet, sie könne sich erst nach Abschluss der Untersuchung zu einzelnen Firmen äußern. Man habe aber nicht nur Tesla, sondern fast alle Hersteller im Blick. „Bei der heutigen Auto-Generation muss man sich über seine Privatsphäre Sorgen machen", heißt es aus der Behörde.
Nach einem Urteil des Landgerichts Köln können Fahrzeughalter sogar ihren Versicherungsschutz verlieren, wenn sie sich gegen das Auslesen der gespeicherten Informationen sträuben. Auf die Frage, wie oft Hersteller die von ihnen gesammelten Daten an Ermittlungsbehörden übergeben, antworten die meisten nur ausweichend. Toyota nennt immerhin eine konkrete Zahl: einmal im vergangenen Jahr. Spricht man mit Ermittlern, verdichten sich aber die Hinweise, dass dies deutlich häufiger geschieht (siehe Interview).
BMW speichert nur 40 Sekunden
Unterdessen verfeinern die Autokonzerne zunehmend ihre Überwachungssysteme. So bietet Tesla standardmäßig einen „Wächtermodus" an: Wenn das Auto geparkt ist und von außen jemand ans Fahrzeug herantritt, filmen Kameras automatisch die Umgebung und speichern die Videos auf einem USB-Stick. „Ich finde, das ist eine Frechheit", sagt Datenschutz-Anwalt Lachenmann. Er hält den „Wächtermodus" für illegal. Auch BMW hat in neueren Modellen eine ähnliche Funktion eingeführt, den sogenannten „Theft Recorder". Anders als Tesla speichert BMW aber maximal 40 Sekunden. Das dürfte das Kriterium der „kurzen anlassbezogenen Aufzeichnung" erfüllen.
Uwe Keim, der Tesla-Fahrer aus Baden-Württemberg, hat inzwischen die Konsequenzen gezogen: Er nutzt weder die Dashcams noch den Wächtermodus in seinem Auto. Seine Anwaltskosten belaufen sich inzwischen auf fast 4.500 Euro. Für das Geld hätte er auch einen kleinen Gebrauchtwagen kaufen können – ohne Kameras und Sensoren.