Putin will mit militärischem Druck die Neutralität der Ukraine erzwingen
Der massive Aufmarsch russischer Soldaten vor der Ukraine lässt bei westlichen Geheimdiensten die Alarmsirenen schrillen. In Kiew macht sich Panik breit: Putschgerüchte und Einmarsch-Szenarien zirkulieren. Es ist eine Drohkulisse ganz nach dem Geschmack von Russlands Präsident Wladimir Putin. Er will das in die EU und die Nato strebende Nachbarland verunsichern.
Die Ängste in der Ukraine und im Westen werden von Moskau systematisch befeuert. Wie im Kalten Krieg kehre „das Albtraumszenario einer militärischen Konfrontation" zurück, mahnt der russische Außenminister Sergej Lawrow in dunklen Worten. Amerikanische Satellitenbilder belegen die Konzentration von knapp 100.000 russischen Kräften nahe der Grenze zur Ukraine sowie von etwa 30.000 auf der Krim. Hinzu kommen rund 20.000 von Moskau ausgerüstete pro-russische Rebellen im Donbass. Ein internes US-Dokument, das an die „Washington Post" geleakt wurde, spricht von einer bald möglichen Gesamtstreitmacht von 175.000 Soldaten.
Es handelt sich um groß angelegte Einschüchterungsrituale. Putin denkt imperial. „Der Zusammenbruch der Sowjetunion ist die größte geopolitische Katastrophe des 20. Jahrhunderts", warnte er bereits 2005. Die Staatsunternehmen wurden zwar durch die Konzerne milliardenschwerer Oligarchen abgelöst. Aber der Kreml-Kosmos, der sich an Einflusssphären und Moskau-kompatiblen Vorhöfen der Macht orientiert, hat überlebt.
Was Putin derzeit vor allem zur Weißglut treibt, ist die Absicht der Ukraine, der Nato beizutreten. Dies wurde 2019 sogar in der Verfassung des Landes verankert. Der russische Präsident setzt mit seiner Mega-Militarisierung alles auf eine Karte. Er will mit der Drohung einer Invasion in die Ukraine die Erfüllung mehrerer Forderungen vom Westen erzwingen: schriftliche Garantien über den Ausschluss einer Nato-Mitgliedschaft, keine militärische Ausrüstung des Landes, neutraler Status nach dem Modell Finnlands.
Der russische Präsident glaubt, dass er die Gunst der Stunde nutzen kann. Er fühlt sich stark, weil er Amerika und Europa geschwächt sieht. US-Präsident Joe Biden muss zu Hause die Pandemie bekämpfen und richtet seinen weltpolitischen Fokus auf den Rivalen China. Europa hat für Washington nicht mehr erste Priorität. Deutschlands neue, komplizierte Dreiparteienregierung muss sich erst noch finden. Frankreichs Präsident Emmanuel Macron hat im April eine schwierige Wahl vor sich, bei der er die Konkurrenz der Konservativen und der Rechtsextremen abwehren muss. All dies bindet Kräfte – und Putin weiß das.
Das Kalkül des Kremlchefs: Der Westen geht um des lieben Friedens willen auf die Bedingungen Russlands ein. Danach könnte Putin großmütig die Truppen abziehen. Doch dieser Plan dürfte nicht aufgehen, wenngleich kurzfristig nicht mit einem Nato-Beitritt der Ukraine zu rechnen ist. Langfristig ist es aber die freie Entscheidung eines Landes, welcher Wirtschafts- oder Militärgemeinschaft es sich anschließen will. Moskau kann dies nach machtpolitischem Gusto weder diktieren noch blockieren.
Dennoch ist es unwahrscheinlich, dass Russland in der gesamten Ukraine interveniert. Putin liebt das Vabanque-Spiel, um zu testen, wie weit die andere Seite geht. Aber er ist kein Hasardeur. Deshalb war es wichtig, dass Amerika mit „ernsthaften Konsequenzen" für den Fall einer Invasion in die Ukraine gedroht hat. Dabei dürfte es sich nicht um Militäraktionen handeln, sondern eher um massive Sanktionen, die bis zur Abkoppelung vom internationalen Zahlungssystem Swift reichen können. Die russische Wirtschaft würde dies ebenso hart treffen wie etwa der Import-Stopp für Öl und Gas. Sollte es zum Äußersten kommen, steht auch die deutsch-russische Ostsee-Pipeline Nordstream 2 auf dem Spiel. Der Preis für Moskau wäre also extrem hoch.
Dies wird den Kremlchef, der einen feinen Sensor für Risiken hat, im Zweifel von einer Total-Besetzung der Ukraine abhalten. Wahrscheinlicher ist, dass er alles tut, um den Staat zu destabilisieren. Die Kette der Maßnahmen ist lang: Desinformations-Kampagnen, Cyberangriffe, militärische Nadelstiche im Donbass. Putin will das Land in einen permanenten Belagerungszustand versetzen. Er will es so müde ringen, dass es keine Kraft mehr zu einer Westbindung hat.