Die vierte Welle ist die erste große Herausforderung für die Ampel. Die Sorge um Omikron und Fortschritte beim Impfen sind eine Seite, zunehmende Proteste und Eskalationen die andere. Ein Weihnachtslockdown bleibt nicht ausgeschlossen.
Antrittsbesuche bei den Nachbarn bringen Aufmerksamkeit und schöne Bilder. Außenministerin Annalena Baerbock (Grüne) stellt sich vor, Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD) ist auf dem internationalen Parkett bereits bekannt. Auch wenn es an vielen Ecken in Europa und der Welt brennt, gibt es zu Hause vor den Weihnachtstagen im Grunde nur ein Hauptthema: Corona samt Omikron.
Zuletzt konnte der neue Gesundheitsminister Karl Lauterbach (SPD) eine Stabilisierung des Infektionsgeschehens ausmachen. Erstmals seit Langem lag die Sieben-Tages-Inzidenz bundesweit wieder unter der Marke von 400. Die Situation in Krankenhäusern und Intensivstationen bleibt nach wie vor angespannt. Niemand kann sagen, wie sich die Lage mit Omikron, der neuesten Variante des Virus, weiter entwickelt. Die Lage in Großbritannien ist eine Vorwarnung. Gesundheitsminister Sajid Javid spricht von einer „phänomenalen Geschwindigkeit" der Ausbreitung. Damit muss auch in Deutschland vor Weihnachten gerechnet werden.
Während die Impfkampagne, insbesondere für die Auffrischung (Booster) gute Fortschritte macht, und sich selbst bislang eher Zurückhaltende zur Impfung entschließen, verschärfen sich gleichzeitig Protestaktionen und breiten sich übers ganze Land aus. Kundgebungen mit beachtlichen Teilnehmerzahlen werden auch aus Städten gemeldet, in denen sich zuvor nur eine Handvoll Menschen zu „Spaziergängen" verabredet hatte. Die Debatte über eine allgemeine Impfpflicht und die bereits konkret auf den Weg gebrachte Impfpflicht in speziellen Einrichtungen etwa für Kranke oder Senioren hat den Protesten Auftrieb gegeben. Mit dabei sind erkennbar viele, die für die wechselnden und teils verwirrenden Vorschriften und Einschränkungen schlicht und ergreifend kein Verständnis mehr haben, darunter auffallend viele Eltern mit Kindern.
Rechte versuchen Zweifel zu nutzen
Dass Rechte versuchen, diese Unzufriedenheiten und Zweifel zu nutzen, um anschlussfähig in die Mitte der Gesellschaft zu werden, ist kein neues Phänomen, hat aber offensichtlich durch das Thema Impfpflicht einen neuen Schub erhalten. Mit solchen emotionalisierenden Themen würden Menschen ansprechbar, die vorher „nicht einmal wegen Falschfahrens auffällig geworden sind", sagt Extremismusforscher Oliver Decker. Ängste zu befeuern und dann die Menschen abzuholen ist eine bekannte Strategie. Trotzdem bleibe „schwer nachvollziehbar", warum sich Bürger aus der Mitte der Gesellschaft zu „Spaziergängen" einladen ließen, ergänzt Decker. Das Schlagwort von einer Spaltung der Gesellschaft bestimmt immer mehr die politische Debatte.
Das will Bundeskanzler Olaf Scholz so nicht gelten lassen. Es sei schließlich nur ein sehr kleiner Teil, der sich radikalisiere, und gegen den werde man entsprechend vorgehen. Die Zurückhaltung kann sicherlich auch als Versuch interpretiert werden, Eskalationen keinen Vorschub zu leisten. Tatsächlich zeigen die Zahlen, die Anmeldelisten und Schlangen vor Impfzentren, was die klare Mehrheit der Menschen für angemessen und richtig hält. Der Rückgang der Inzidenzzahlen wird zumindest zu einem Teil noch nicht darauf zurückgeführt, dass verschärfte Maßnahmen nach dem neuen Infektionsschutzgesetz wirken, sondern dass sich viele Menschen bereits zuvor angesichts der Entwicklung selbst zurückgenommen und Kontakte reduziert haben und überhaupt wieder vorsichtiger geworden sind.
Damit ist zunächst auch einmal die kurzfristige Debatte über längere Weihnachtsferien endgültig vom Tisch. Trotzdem will der Kanzler einen weihnachtlichen Lockdown nicht von vorneherein und kategorisch ausschließen. Das zumindest scheint eine der Lehren aus der früheren Corona-Politik zu sein.
Bei einer Bundestagsabstimmung über eine Impfpflicht will der Abgeordnete Olaf Scholz zustimmen, weil es „rechtlich zulässig und moralisch richtig" ist. Das Zitat aus einem seiner ersten großen Interviews nach der Wahl klingt nicht nach leidenschaftlicher Zustimmung, sondern nüchtern sachlicher Erwägung. In der aufgeheizten Debatte sicher kein schlechtes Signal.