2021 war politisch gesehen eines der spannendsten Jahre, frei nach dem Motto: Erstens kommt es anders, zweitens als man denkt. Aus sicher geglaubten Gewinnern wurden Verlierer und umgekehrt.
Eigentlich gibt es in den überlieferten Geschichten und Sagen immer nur einen Märchenprinzen, doch Deutschland leistet sich im Jahr 2021 gleich drei davon. Olaf Scholz, Robert Habeck und Christian Lindner. Ersterer galt spätestens seit dem 6. Dezember 2019 politisch als Ausschuss, nachdem Saskia Esken und Norbert Walter-Borjans von der SPD-Basis zu ihren Vorsitzenden gekürt wurden. Seit diesem denkwürdigen Nikolaustag vor gut zwei Jahren hätte auf Scholz so gut wie niemand mehr auch nur einen Pfifferling gewettet. Bis zum vergangenen Spätherbst. Jetzt ist er Bundeskanzler einer Ampelkoalition. Dank hanseatischer Zurückhaltung und auch dem Unvermögen seiner Konkurrenten.
Auch der ehemalige Grünen Co-Vorsitzende Robert Habeck erntete spätestens nach der Entscheidung im Frühjahr, dass er nicht Kanzlerkandidat seiner Partei wird, vor allem mitleidige Blicke. Auch Habeck galt politisch als erledigt, ohne jegliche Aussicht, noch in irgendeine machtvolle Position in seiner Partei oder einer zukünftigen Bundesregierung zu kommen. Was zu diesem Zeitpunkt niemand ahnte: Es gab zwischen ihm und der Grünen Kanzlerkandidatin eine Geheimabsprache, für den Fall, dass Annalena Baerbock nicht Kanzlerin wird. Jetzt ist er Vize-Kanzler und Superminister für Klima und Wirtschaft, ausgestattet mit Vetorecht in der Bundesregierung. So was gab es noch nie in der Geschichte der Bundesrepublik.
Der dritte im Bunde der diesjährigen politischen Märchenprinzen ist zweifelsohne FDP-Chef Christian Lindner. Er legte – aus heutiger Sicht betrachtet – den Grundstein zu seinem fabulösen Aufstieg bereits in der Nacht vom 19. zum 20. November 2017 mit seiner damaligen Absage an eine Jamaika-Koalition unter Kanzlerin Merkel. Sein damaliges „besser nicht regieren, als falsch regieren" ist den Unterhändlern von SPD und Grüne bei den Koalitionsverhandlungen zur Ampel offenbar derart in Mark und Bein gefahren, dass sie vier Jahre später bemüht waren, Lindner jeden Wunsch von den Augen abzulesen. Rausgekommen sind vier FDP-Ministerposten in der neuen Regierung, als Trüffel obendrauf das Vetorecht dank Bundesfinanzministerium.
Drei Männer, die von ihrer Persönlichkeit nicht unterschiedlicher sein können, sind damit die Gewinner des Jahres, vereint in einer Regierung. Doch wo so viel Licht im Berliner Parlamentsbetrieb, da noch viel mehr Schatten. Das Eine bedingt hier das Andere, wo gleich drei Gewinner sind, muss es mindestens genauso viele Unterlegene geben, sonst funktioniert Demokratie nicht.
SPD profitierte von Fehlern der anderen
Rückblende: Noch im Januar des vergangenen Jahres schien laut Umfragen klar zu sein, dass die zukünftige Regierung Schwarz-Grün sein würde, die Union muss nur noch schauen, ob der zukünftige Bundeskanzler Friedrich Merz oder Markus Söder heißt. Die CDU wollte das Kanzleramt behalten: Auf dem digitalen CDU-Bundesparteitag Mitte Januar musste allerdings erst mal, mit einem dreiviertel Jahr Verspätung, der Parteivorsitz und damit womöglich die Kanzlerkandidatenfrage innerhalb der Christdemokraten geklärt werden. Bis heute haftet CDU-Generalsekretär Paul Ziemiak der Nimbus an, diese Wahl zu Gunsten von Armin Laschet beeinflusst zu haben. Ziemiak hatte die Parteitagsregie des CDU-Konvents unter sich. In der obligatorischen Fragerunde der 1.001 Delegierten des Parteitages vor der Wahl zum Vorsitz wurde überraschend per Stream Jens Spahn zugeschaltet. Spahn hatte auf seine Kandidatur zugunsten von Armin Laschet verzichtet. Beide bildeten nun das Team Laschet, Spahn hielt in der Fragerunde eine Lobrede auf Laschet. Anstatt dazwischenzugehen, ließ Ziemiak ihn gewähren und kurz danach abstimmen. Es war die kürzeste Fragestunde, die je ein CDU-Parteitag erlebt hat. Laschet gewann mit 521 zu 466 Stimmen gegenüber Friedrich Merz. Die Würfel schienen gefallen, Laschet würde als CDU-Vorsitzender auch Kanzlerkandidat. Die Unionsumfragen lagen damals noch um die 34-, die Grünen bei 26 Prozent. Schwarz-Grün galt als gesetzt. Doch da hatte man in der CDU die Rechnung ohne den Wirt gemacht, besser die Wirtin, die CSU-Schwester. Der bayerische Ministerpräsident und CSU-Chef Markus Söder hatte sich überraschend in den Kopf gesetzt, dass er Unions-Kanzlerkandidat werden will, nachdem er keine zwölf Wochen vorher noch großzügig im Meistersaal in Berlin-Kreuzberg die Biographie von Armin Laschet vorgestellt hatte. Doch nun, Anfang Februar 2021 will es Söder machen, weil „Armin der Rückhalt fehlt", so Söder. Was folgt ist ein Geschwisterkampf wie ihn die Union seit 1979 nicht mehr erlebt hat. Damals beharkten sich Franz-Joseph Strauß und Helmut Kohl um die Kanzlerkandidatur. Damals gewann Strauß das Machtpokerspiel, doch diesmal griff die graue CDU-Eminenz Wolfgang Schäuble ein und entschied den Fight. Der damalige Bundestagspräsident lud die beiden Kontrahenten an einem Sonntagabend Mitte April kurz vor Mitternacht ins hohe Haus. Schäuble stellte gleich zu Beginn des Gesprächs klar, er habe nicht vor, bis zum Morgengrauen mit den beiden Kontrahenten zu verweilen und drängte auf eine schnelle Klärung der Kanzlerkandidatenfrage. Morgens um kurz nach zwei Uhr waren die Würfel gefallen. Der Rest ist Geschichte.
Das Hickhack um die Kanzlerkandidatur hat die Union nicht nur in den Umfragen wertvolle Prozente gekostet, die Konservativen kamen noch auf 26 bis 28 Prozent. Gleichzeitig hatte aber auch ihr grüner Traumpartner Umfragefedern lassen müssen. Mitte April reichte es aber noch knapp für Schwarz-Grün. Doch zu diesem Zeitpunkt hatte die grüne Kanzlerkandidatin ebenfalls eine eher zweifelhafte Performance hingelegt, beziehungsweise persönliche Altlasten wurden ihr zum Verhängnis. Da war ihr abgegebener Lebenslauf, der vor allem mehr Fragen aufwarf als Erkenntnisse brachte. Dazu kam ihr Buch, das ganz offensichtlich in größeren Teilen nicht aus ihrer Feder stammte. Diese Unzulänglichkeiten führten zu einer bis dahin ungekannten Entzauberung einer Kanzlerkandidatin mitten im Wahlkampf. Bis heute ist nicht ganz klar, wer da im grünen Wahlkampfteam geschlafen hat und solche elementaren Einlassungen der Kanzlerkandidatin im Vorfeld nicht geprüft hat. Der damalige Grüne Wahlkampfchef und ehemalige Bundesgeschäftsführer Michael Kellner weist bis heute alle diesbezüglichen Vorwürfe weit von sich. Er hätte sich auf die Angaben verlassen, doch einer schien offenbar eine Ahnung zu haben, dass die persönlichen Angaben von „Lenchen" nicht ganz wasserdicht seien könnten: Robert Habeck. Bei der Vorstellung der grünen Kanzlerkandidatin am 20. April in der alten Mälzerei in Berlin-Schöneberg spürte man ihm das Unbehagen geradezu körperlich an. „Annalena, die Bühne gehört dir", kam mit so viel Bitternis rüber, wie man sie bei Habeck bis dahin nicht für möglich gehalten hat. Habeck hatte vorgesorgt und offenbar auf Grund seiner Kenntnis über die profunden Diskrepanzen bei Baerbocks Selbstdarstellung mit ihr einen Deal geschlossen: Sie wird Kanzlerkandidatin. Allerdings wird er Vizekanzler, wenn das grüne Projekt Kanzleramt bei der Bundestagswahl scheitern sollte. Ein sehr weiser, vorausschauender Schachzug, von dem die Strategen in der Union zu diesem Zeitpunkt meilenweit entfernt waren.
Kanzlerkandidat Laschet gerierte sich zusehends als fröhlicher Elefant im Porzellanladen. Der rheinische Frohsinn wollte nicht so richtig überspringen. Ganz im Gegenteil. Es ist ein herzliches Lachen, das den Kanzlerkandidatengau der Union besiegelt. Bundespräsident Steinmeier versucht am 17. Juli im nordrhein-westfälischen Erftstadt mitten im Jahrhunderthochwasser tröstende Worte zu spenden. Unionskanzlerkandidat Laschet im Hintergrund, in einem Hauseingang stehend, lässt sich zu einem Scherz hinreißen, über den er selber herzlich am meisten lachen muss. Noch nie in der Geschichte der Bundesrepublik haben drei Sekunden Fernsehbilder eine politische Karriere so abrupt beendet. Von diesem Augenblick an hatte Laschet keine Chance mehr.
Zum gleichen Zeitpunkt strampelt seine grüne Konkurrentin Baerbock noch munter vor sich hin, aber auch hier sind die Umfragewerte am Sinken. Auch Baerbock trifft nicht den Nerv der Menschen.
Grundsatzfragen für die Zukunft der CDU
Bei der SPD hingegen bewegt sich das schwere sozialdemokratische Parteischiff langsam aus dem Umfragetief von einmal 15 Prozent. Olaf Scholz ist plötzlich richtig hip. Die SPD profitiert vor allem vom Versagen der Union und der Grünen, aber auch der Linken. Ein weiteres Phänomen in der Dauer-Pandemie. Mit Janine Wissler und Dietmar Bartsch als Spitzenkandidaten bekommt die Linke absolut keinen Fuß auf den Boden. Die Parteilinke Wissler ist bemüht, sich vor allem von Bartsch inhaltlich abzugrenzen, vergisst dabei nur, dass Streit innerhalb einer Partei von ihren potenziellen Wählern absolut nicht goutiert wird. Die Union kann davon ein Lied singen. Am Ende landet die Linke bei der Bundestagswahl bei 4,9 Prozent, also unter der 5 Prozent-Hürde, und zieht nur dank der drei Direktmandate von Lötsch, Pellmann und Gysi in den Bundestag in Fraktionsstärke ein.
Auch für die Grünen ist das Wahlergebnis Ernüchterung pur. Es ist zwar das Beste, das die Partei seit ihrer Gründung vor bald 42 Jahren eingefahren hat, aber von der Kanzlerschaft mit 14,8 Prozent weit entfernt. Die grüne Spitzenkandidatin Annalena Bearbock hat für ihre persönlichen Voraussetzungen zwar viel erreicht, ist Bundesaußenministerin, doch innerhalb ihrer Partei spielt sie zukünftig so gut wie keine Rolle mehr. An ihre Stelle ist Robert Habeck getreten, der bereits jetzt den Status von Joschka Fischer innehat. Habeck ist das personifizierte Machtzentrum der Grünen, an ihm kommt keiner mehr vorbei.
In der Union dagegen wird der Machtkampf lustig weitergehen. Auch wenn Friedrich Merz Parteivorsitzender werden sollte, wie derzeitige Wasserstandsmeldungen vermuten lassen, sind viele konservative Grundsatzfragen bei Weitem nicht geklärt. Wird Deutschland ein Einwanderungsland, bekommt man eine Energiewende ohne Atomkraftwerke hin oder das Adoptionsrecht für homosexuelle Paare? Dies sind nur drei der grundsätzlichen Fragen, denen sich die CDU stellen muss.
Für den zukünftigen CDU-Vorsitzenden weht ein besonders heftiger Wind von vorn. In den kommenden fünf Monaten liegen drei wichtige Landtagswahlen vor ihm. An der Saar, in Schleswig-Holstein und Nordrhein-Westfalen werden die Wähler zur Urne gerufen. In den drei Ländern regiert die CDU, doch die Umfragen sehen für die Konservativen nicht gut aus. Dazu kommt der sozialdemokratische Rückenwind aus der Bundeshauptstadt. Damit könnten die drei CDU-Ministerpräsidenten Tobias Hans, Daniel Günther oder Hendrik Wüst im Frühsommer Geschichte sein. Vom ehemaligen CDU-Vorsitzenden Armin Laschet wird zu diesem Zeitpunkt dann ohnehin niemand mehr Notiz nehmen.