Das Staatsballett Berlin kommt nicht aus den Schlagzeilen – den negativen. Dabei gäbe es auch Gründe für positive Berichterstattung.
Erst kürzlich zeigte das Staatsballett Berlin, die mit 91 Tänzerinnen und Tänzern größte Ballettkompagnie Deutschlands, eine Serie von John Crankos Ballettversion „Onegin" in mehrfacher Besetzung, darunter mit der atemverschlagend filigran gestaltenden Polina Semionova als Tatjana. Víctor Ullates Neusicht auf „Don Quixote" im Dezember, obwohl nicht unbedingt ein Weihnachtsballett, bestach mit exzellenten Solisten, so dem bravourösen Paar Daniil Simkin und Evelina Godunova, und einer blitzsauber tanzenden Gruppe. Überhaupt verfügt sie derzeit über hervorragende Talente, unter ihnen Preisträger internationaler Wettbewerbe. Richtig ist deshalb die Ensemblepolitik, sie mit solistischen Aufgaben zu betrauen.
In die Medien findet indes vorrangig das, was Skandal macht. Wie das Staatsballett dazu rege beiträgt, ist die eigentliche Tragik. Als es Anfang 2004 durch Zusammenlegung der ursprünglich drei an den Opernhäusern beheimateten Berliner Compagnien gegründet wurde, sollte es Kosten sparen und kostete zunächst 145 Tänzern und Tänzerinnen die Stelle. Gründungsintendant Vladimir Malakhov, einer der führenden Tänzer seiner Generation und Liebhaber des Balletts der Romantik, verordnete dem Ensemble ein Repertoire nach seinem Geschmack, hatte bei den Uraufführungen nicht durchgängig eine glückliche Hand, verstand sich jedoch prächtig darauf, das Staatsballett und auch sich zu popularisieren. Als Intendant, Solotänzer, Choreograf und internationaler Gaststar rieb er sich zunehmend auf, verpasste zudem den Absprung von der Bühne. Dennoch darf man seine Amtszeit als das goldene Jahrzehnt des Staatsballetts sehen.
Exzellente Solisten und viele Talente
Als Nacho Duato die Nachfolge antrat, hatte er seine Glanzperiode als Choreograf hinter sich. Verstärkt hätte er deshalb in Verantwortung für ein vielfältiges Repertoire auf spannende Gastchoreografen setzen müssen. Viel-mehr protegierte er seine älteren Stücke. Und weil ihm die Charmeoffensive eines Malakhov so gänzlich abging, hat man seine Vierjahres-Ära als so düster in Erinnerung, wie er die Programmbücher gestalten ließ. Als dann vorfristig und öffentlich über seine Nachfolge diskutiert wurde, warf er ein Jahr verfrüht hin. In seine Zeit fiel etwas, was man für undenkbar gehalten hatte: ein Streik der Compagnie um verbesserte Arbeitsbedingungen und freie Wahl der gewerkschaftlichen Zugehörigkeit. Wochenlang gab es keine Vorstellungen. Am Ende siegte das Ensemble auf ganzer Linie, früheres Einlenken seitens der Verantwortlichen hätte den Konflikt entschärft.
Auf Nacho Duato folgte Sasha Waltz auf dem Intendantenstuhl. Die ausgewiesene Spezialistin für zeitgenössischen Tanz holte sich einen Co-Intendanten für den klassischen Repertoireteil an die Seite: den ihr durch Zusammenarbeit bekannten Schweden Johannes Öhman. Eine Spielzeit amtierte er allein, weckte Hoffnungen auf frischen Wind in der Programmplanung. Als Sasha Waltz, nun frei geworden, dazustieß, trat Öhman alsbald die Flucht zurück nach Stockholm an, angeblich um näher bei der Familie zu sein. Unklar sind die wahren Gründe für das Scheitern eines durchaus interessanten Experiments. Zurück blieb ein Scherbenhaufen. Kommissarische Ballettindentantin ist seit 2020 Christiane Theobald, Berlins Ballett seit Jahrzehnten verbunden, im Staatsballett ohnehin bereits Stellvertreterin und Betriebsdirektorin. Ihr fiel gleich zu Beginn ein weiterer Skandal in den Schoß.
Mehreren Ensemblemitgliedern, um die das Duo Waltz/Öhman die Compagnie aufgestockt hatten, wurde gekündigt, so auch einer dunkelhäutigen Tänzerin. Sie klagte gegen ihre Entlassung und führte zudem an, durch eine Ballettmeisterin rassistisch beleidigt worden zu sein. Der trug das drei Abmahnungen ein, der Tänzerin 16.000 Euro Schadensersatz und ein Jahr Vertragsverlängerung. Die nutzte sie indes nicht, sondern verließ Berlin für ein Engagement in Straßburg. Die Ballettmeisterin ihrerseits klagte ebenfalls, konnte Zeugen für ihre Version des Geschehens aufbringen, die Abmahnungen wurden im Vergleich Aussage gegen Aussage zurückgenommen. Den Schaden hat das Staatsballett.
Jüngster Eklat: Aussetzung der Erfolgsproduktion „Der Nussknacker", was in den Medien vorwiegend einen Sturm der Entrüstung auslöste. Stattdessen „Don Quixote" vor und zum Fest. Gegenstand kontroverser Debatten: der nahe am Original verfertigte „Nussknacker" enthalte etwa mit dem orientalischen und dem chinesischen Tanz Klischeebilder, kolonial konnotiert, daher nicht authentisch. Dass die Kunstgattung Ballett stilisiert, dürfte auch dem naivsten Zuschauer bekannt sein. Wer also authentischen Tanz dieser Regionen sehen möchte, geht in einschlägige Gastspiele und nicht ins Ballett. Dort entlädt sich die Fantasie des jeweiligen Choreografen, damals, 1892, die von Lew Iwanow. Und im Fall des Staatsballetts 2013 die des russischen Doppels Vasily Medvedev und Juri Burlaka. Dass sie anstelle einer Neudeutung so weit wie möglich auf das per Notation und persönliche Überlieferung tradierte Original zurückgreifen, es möglichweise behutsam ergänzen würden, wusste man vorher. Weder Geschichte noch ein erhaltenes Ballett kann man rückwirkend korrigieren, wohl aber kommentieren. Dafür gibt es unter anderem abendliche Einführungsgespräche und Programmhefte. Etwas mehr augenzwinkernde Gelassenheit wäre hier nützlich gewesen statt bilderstürmerischem Rückzug eines ganzen Werkes wegen einiger minutenkurzer Szenen. Ironie oder höhere Gewalt: Corona-Fälle im Ensemble führten zur Absage aller Vorstellungen auch des „Nussknacker"-Ersatzes bis Anfang Januar.
Kontroverse um „Nussknacker"-Choreografie
Zwischen Oper und Schauspiel sowie Ballett gibt es einen gravierenden Unterschied. Niemand käme auf die Idee, etwa das Original einer Wagner-Oper zu rekonstruieren: zu fremd sind Spielweise, Ausstattung, Inszenierung unserer Zeit. Das Ballett ist in der glücklichen Lage, näherungsweise Originale mit choreografischen Perlen zu besitzen. Sie sind ebenso bewahrenswertes Erbe, wie die darin behandelten Konflikte zutiefst menschlich und deshalb zeitlos gültig sind. Selbst wenn das Libretto des weihnachtlich festlichen Balletts „Nussknacker" nicht eben als Meisterschuss gilt, ist es mitsamt der traditionellen Choreografie ein Zeitdokument.
Dem stimmt Christiane Theobald im Exklusiv-Gespräch zu, stellt jedoch klar, der „Nussknacker" sei für diese Saison gar nicht im Plan gewesen. Vielmehr sei es von Anbeginn um „Don Quixote" gegangen, der dem Ensemble nach den Corona-Entbehrungen reichlich Aufgaben biete. Eine Wiederaufnahme des „Nussknacker" schließt sie nicht aus, überlässt diese Entscheidung freilich ihrem Nachfolger. Wenn der Zürcher Ballettchef Christian Spuck zur Spielzeit 2023/24 die Amtsgeschäfte in Berlin übernimmt, kann man nur hoffen, dass er dem Staatsballett bringt, was es so dringend braucht: Kontinuität und Kreativität.