Während der Westen im Falle eines Ukraine-Einmarsches mit Sanktionen droht, spricht Präsident Wladimir Putin von einer Provokation der Nato. Für den Osteuropa-Experten Ruprecht Polenz (CDU) ist der Fall klar: Der Preis, den Russland für einen Einmarsch zahlt, sollte extrem hoch sein.
Herr Polenz, wie groß schätzen Sie die Gefahr ein, dass der Ukraine-Konflikt eskaliert?
Zunächst einmal würde ich eher von einem Russland-Konflikt als von einem Ukraine-Konflikt sprechen und die Leitfrage daran anschließen, wem die Ukraine überhaupt gehört. Die Ukraine ist ein souveräner Staat, deren territoriale Integrität mit der Charta von Paris 1990 international anerkannt wurde und zwar auch von der damals existierenden Sowjetunion. Diese Charta basiert auf der KSZE-Schlussakte von Helsinki 1975, in der Gewaltverzicht, Achtung der Menschenrechte und die Unverletzlichkeit der Grenzen in Europa festgeschrieben wurden. Das haben die Sowjetunion, USA, Kanada und die europäischen Staaten verbindlich unterschrieben. Als Gegenleistung für die territoriale Integrität hat die Ukraine alle dort stationierten Atomwaffen nach dem Budapester Memorandum 1994 an Russland übergeben. Diese Fakten stellt Wladimir Putin allesamt infrage und verhält sich im Fall der Ukraine seit der Annexion der Krim 2014 und durch die Unterstützung der Separatisten in der Ostukraine völkerrechtswidrig. Putin spricht in einem Aufsatz über die historische Einheit der Russen und der Ukrainer, bezeichnet sie als Brudervölker und redet von Befreiung, akzeptiert aber nicht die Eigenständigkeit der Ukraine. Im Grunde ist der Krieg im Donbass eine kontinuierliche Verletzung der Friedensordnung in Europa und Russland ganz klar der Aggressor. Trotzdem müssen wir alle diplomatischen Möglichkeiten ausschöpfen, um eine weitere Eskalation zu verhindern.
Warum verhält Putin sich so?
Russische Außenpolitik hat immer auch eine Funktion der Innenpolitik. Das Land hat wirtschaftliche Probleme, ein Großteil der Bevölkerung ist mit dem Umgang mit der Corona-Pandemie unzufrieden, das russische Geschäftsmodell, das im Wesentlichen auf dem Export von Öl und Gas basiert, gilt als nicht zukunftsorientiert – all das führt zu einer sinkenden Popularität Putins, der durch seine außenpolitischen Aktionen versucht, von diesen innenpolitischen Problemen abzulenken. Wie macht er das? Er baut seinen persönlichen autokratischen Machtapparat aus, duldet keine kritischen Medien, schaltet Rivalen aus wie Alexei Nawalny, der in Sibirien in Lagerhaft sitzt, verbietet ihm gefährlich werdende Institutionen wie die russische Menschenrechtsorganisation Memorial, legt sich ein Geschichtsbild zurecht, wie es ihm am besten passt. Wladimir Putin sagt, dass der Zusammenbruch der ehemaligen Sowjetunion das schlimmste Ereignis in der Geschichte Russlands gewesen sei. Das Ziel der russischen Außenpolitik ist demnach die Wiederherstellung der alten UdSSR, die Politik ist nationalistisch und imperial geprägt. Putins persönliches Ziel ist die Sicherung der Macht als Alleinherrscher. Da sind ihm alle Mittel recht. Um alle Schuld für die derzeitige Konfliktsituation auf das Ausland zu schieben, bedient er sich zweier Legenden.
Die da wären?
Zum einen befeuert Putin seine These, die Nato-Osterweiterung habe gegen alles verstoßen und die Nato würde sich vertragswidrig verhalten. Zum anderen behauptet er, Russland würde vom Westen schlecht behandelt. Beides stimmt so nicht. Bei den Verhandlungen 1990 mit Michail Gorbatschow gab es noch die Sowjetunion sowie die beiden Verteidigungssysteme Warschauer Pakt und Nato, die damals gar nicht auf der Tagesordnung standen. Hätten die Russen damals dieses Thema für so wichtig gehalten, hätten sie die Entwicklung der Nato auf die Agenda gesetzt und man hätte es wie im „2+4-Vertrag" detailliert regeln können. Zudem wurde die Entwicklung der Nato 1997 in der Nato-Russland-Grundakte von allen Seiten anerkannt und akzeptiert. Zum Vorwurf der Ausgrenzungspolitik Russlands durch den Westen sprechen die Fakten für sich: Russland ist seit 1996 Mitglied im Europarat, 1997 wurde ein Kooperationsabkommen mit der EU unterzeichnet, 1998 wurde Russland Mitglied in G7, seit 2002 existiert der Nato-Russland-Rat, seit 2012 gehört Russland der WTO an. Das hat wohl kaum etwas mit Ausgrenzung zu tun.
Wie lauten die Forderungen Russlands an den Westen?
Russland verlangt Sicherheitsgarantien vom Westen. Putin will keine Erweiterung der Nato und zwar nicht nur für die Ukraine und Georgien, sondern auch für Länder wie Schweden und Finnland. Des Weiteren verlangt er, dass keine Raketensysteme mehr in der Nähe der russischen Grenze stationiert werden, obwohl Russland selbst über Atomraketen in Kaliningrad im ehemaligen Ostpreußen verfügt. Und er möchte, dass die Nato ihre militärische Infrastruktur auf den Stand von vor der Osterweiterung zurückzieht. Diese zentralen Forderungen verletzen die Selbstbestimmtheit jedes Staates, über eine Bündniszugehörigkeit selbst frei entscheiden zu können. Im Übrigen ist ein Beitritt der Ukraine in die Nato kein Thema. Dafür müssten die Mitgliedstaaten zustimmen, das Beitrittsland selbst über eine Mehrheit dafür verfügen und der Beitritt die Sicherheit in Europa erhöhen. Gerade letzteres dürfte sicherlich nicht einfach zu beantworten sein.
Eine gemeinsame Sicherheit in Europa, wie es die Charta von Paris vorsieht, ist legitim und die USA hat auch Verhandlungen über Abrüstung und Rüstungskontrolle angeboten, aber Russland reicht dieses Angebot nicht aus.
Wie entschärft man diesen Konflikt?
Die Frage ist: Kann man eine russische Invasion in die Ukraine verhindern? Bei Analyse der Lage stellen wir nüchtern fest, dass Russland die Fähigkeit besitzt, die Ukraine anzugreifen, zumal das russische Militär der ukrainischen Armee haushoch überlegen ist. Hat Russland aber auch die Absicht das zu tun? Das kann Putin nur selbst beantworten und deshalb muss der Westen das Kosten-Nutzen-Kalkül Putins verändern. Genau das ist Ziel der angedrohten Sanktionen, die in ihrer Schärfe und Konsequenz vorher angekündigt werden müssen. Putin muss wissen, welche Konsequenzen sich für Russland ergeben, wenn zum Beispiel Nord Stream 2 nicht in Betrieb geht, was der Ausschluss aus dem internationalen Zahlungssystem „Swift" bedeutet, wenn scharfe Wirtschaftssanktionen verhängt werden. Wie erklärt Putin bei einem Waffengang seinem Volk zudem die möglichen vielen toten russischen Soldaten? Natürlich haben Sanktionen auch negative Rückwirkungen auf den Westen, etwa wenn Öl- und Gaslieferungen ausbleiben. Aber Russland braucht auch die Einnahmen aus dem Energiegeschäft. Diese gegenseitige Abhängigkeit besteht. Die Frage wird es sein, wer länger durchhält bei einer Störung der Lieferungen und inwieweit jedes Land bereit ist, eigene Nachteile in Kauf zu nehmen. Wären wir beispielsweise in Deutschland bereit, für die Ukraine zu frieren?
Wir müssen Putins Forderungen Einhalt gebieten. Er würde für den Einmarsch einen sehr hohen ökonomischen Preis zahlen. Entscheidend ist, dass die Sanktionsandrohungen des Westens auch glaubwürdig sind – und da kommt es besonders auf die Geschlossenheit an.
Die scheint aber in Deutschland nicht so groß zu sein.
Grundsätzlich ist es zu begrüßen, dass Deutschland in der Außenpolitik keine Sonderrolle einnimmt und sich klar an der Seite von EU und Nato positioniert. Was die Lieferung von defensiven Waffen an die Ukraine angeht, sollte die Bundesregierung ihre Haltung allerdings überdenken. Die Glaubwürdigkeit Deutschlands wird von einigen Bündnispartnern bereits infrage gestellt. Waffen zur reinen Selbstverteidigung zu liefern, ist im Rahmen der UN-Charta möglich und im Fall der Ukraine gegeben, denn russische Panzer haben auf ukrainischem Boden nichts verloren.
Grundsätzlich gilt für den Frieden in Europa folgendes: Solange wir in Europa kein gemeinsames Sicherheitssystem mit Russland entwickeln können, brauchen wir gegenüber Russland eine militärische Abschreckung. Unter Boris Jelzin gab es Ansätze in Russland, diesen Weg zu gehen, aber Putin hat in den letzten Jahren autoritäre Weichenstellungen in die andere Richtung vorgenommen. Trotzdem müssen alle Register des Dialogs gezogen werden, denn Krieg darf niemals Mittel der Wahl sein. Bei allen diskutierten Lösungsmöglichkeiten ist immer das Einverständnis der Ukraine als souveräner Staat notwendig. Niemand hat das Recht, über die Köpfe der Ukrainer zu entscheiden.