Der Startschuss der World-Tour im Radsport fällt auch 2022 in den Vereinigten Arabischen Emiraten. Beim Heimrennen peilt UAE-Kapitän Tadej Pogacar den Sieg an, doch er verfolgt noch viel größere Ziele.
Was macht jemand, der in seiner Generation kaum noch ernsthafte Konkurrenz vorfindet? Er misst sich mit den Größten aus anderen Zeiten. Und so knöpft sich Tadej Pogacar jetzt drei Ikonen des Radsports vor: Rik van Looy (88), Eddy Merckx (76) und Roger De Vlaeminck (74). Die Belgier haben es als bislang einzige in der Geschichte geschafft, die fünf bedeutendsten Eintagesrennen zu gewinnen – Pogacar will die Nummer vier werden. „In Zukunft will ich versuchen, alle fünf Monumente zu gewinnen", kündigte der zweimalige Tour-de-France-Gewinner an.
Bei Lüttich-Bastogne-Lüttich und der Lombardei-Rundfahrt hat der Slowene im Vorjahr triumphiert, in dieser Saison peilt er bei der Flandern-Rundfahrt und bei Mailand-San Remo den Sieg an. Dann würde „nur" noch Paris-Roubaix fehlen. Da der 23-jährige Pogacar im Normalfall noch mindestens ein Jahrzehnt auf höchstem Niveau fahren dürfte – viele meinen gar, seine beste Zeit in der Ausdauersportart komme erst noch – ist ihm alles zuzutrauen. Und ganz nebenbei will Pogacar natürlich auch wieder bei der Tour de France triumphieren, so wie 2021 und im Jahr davor. Das Streckenprofil 2022 kommt ihm als Allrounder noch mehr entgegen, neben Bergetappen wie die nach Alpe d‘Huez stehen auch 20 Kilometer über die Kopfsteinpflaster-Passagen des Klassikers Paris-Roubaix auf dem Programm.
Pogacar will alle fünf Monumente gewinnen
Vielseitigkeit ist gefragt – und keiner im Peloton ist wohl vielseitiger als Tadej Pogacar, der „Außerirdische", wie ihn nicht nur AG2R-Sportdirektor Julien Jurdie nennt. Kaum ein Experte zweifelt am Tour-Sieg Nummer drei für den Slowenen, der an Motivation nichts eingebüßt zu haben scheint: „Es ist ein wirklich guter Kurs, ich kann es kaum erwarten." Eine Spazierfahrt werde es aber nicht, denn „wenn man bereits gewonnen hat, ist der Druck natürlich größer". Doch der konnte ihm bisher nichts anhaben – im Gegenteil. „Es hat bei mir Jahre gedauert, mit dem Druck, der Erwartungshaltung und der Beobachtung zurechtzukommen", sagte der britische Radsportstar Chris Froome, „aber er scheint das alles leicht wegzustecken, mental und körperlich. Er ist augenscheinlich ganz bei sich selbst und dem, was er tut. Ich bin mächtig beeindruckt."
Um sich die Form für die hammerharte Saison mit zwei großen Rundfahrten (Tour de France und Vuelta) sowie vier der fünf Monumente zu holen, schrubbte Pogacar im Januar im Trainingslager von Alicante/Spanien Kilometer. Sein Saisoneinstand ist bei der UAE Tour (20. bis 26. Februar) geplant, die wie schon im Vorjahr den Auftakt der World-Tour im Profiradsport deklariert. Allerdings hatte sich Pogacar knapp zwei Wochen vorher mit dem Coronavirus angesteckt und „leichte Symptome" verspürt. Sollte er sich körperlich fit fühlen und einen negativen Test vorweisen können, steht einem Start nichts im Wege. Beim Heimrennen seines Teams UAE Emirates würde Pogacar als Titelverteidiger anrollen, der Gesamtsieg ist auch diesmal das erklärte Ziel des Ausnahmekönners. „Ich möchte die gleichen Ergebnisse wie in der letzten Saison oder sogar bessere erzielen, aber ich erwarte es nicht", sagte er: „Außerdem kann ein Sturz eine längere Auszeit zur Folge haben. Die Saison wird jedenfalls ziemlich anstrengend."
Buntes Programm für sieben Wettkampftage
Bei der ersten wichtigen Rundfahrt der Saison starten bis auf die französische Cofidis-Equipe alle World-Teams – auch die deutsche Mannschaft Bora-hansgrohe ist mit am Start. In den sieben Wettkampftagen stehen vier Sprintetappen, zwei Bergankünfte am Jebel Jais (4. Etappe) und dem Jebel Hafeet (7. Etappe) sowie ein neun Kilometer langes Einzelzeitfahren (3. Etappe) auf dem Programm. Insgesamt ein Profil, das ideal zum Einrollen in die Saison für Pogacar und Co. ist. Emanuel Buchmann ist aber nicht dabei. Der Tour-Vierte von 2019 peilte genau wie Teamkollege Wilco Keldermann für Mitte Februar die Ruta del Sol in Andalusien an, danach wollte sich der 29-Jährige wieder ins Training zurückziehen. Auch in dieser Saison setzt der Klassementfahrer alles auf die Karte „Giro d’Italia", die große Schleife in Frankreich lässt er wie schon im letzten Jahr aus. Vor allem die ersten Etappen auf den windanfälligen Straßen Dänemarks und mit den Kopfsteinpflaster-Passagen sind denkbar ungünstig für das Leichtgewicht (59 Kilogramm auf 1,81 Meter).
Anders die Italien-Rundfahrt (6. bis 29. Mai), bei der Buchmann nur einer von drei Teamkapitänen ist. Gemeinsam mit dem Niederländer Wilco Kelderman und Neuzugang Jay Hindley aus Australien bildet Buchmann eine ambitionierte Dreier-Spitze, die mindestens einen Podestplatz herausfahren soll. „Auf der Gesamtwertung des Giro d‘Italia liegt in diesem Jahr bei uns ein großer Fokus. Wir nehmen dort keinen Sprinter mit", sagte Sportdirektor Rolf Aldag: „Wir gehen mit viel Qualität an den Start. Wir haben die Chance, aggressiv und offensiv zu fahren und in den Bergen auf jede Situation zu reagieren."
Das Giro-Profil mit deutlich weniger Zeitfahr-Kilometern habe ihn „ein bisschen angelacht", sagte Buchmann, der im Vorjahr aussichtsreich im Rennen liegend nach einem Sturz auf der 15. Etappe hatte aufgeben müssen: „Ich habe nach dem letzten Jahr noch eine Rechnung offen." Und dann ist da auch noch sein bislang unerfülltes Karriereziel: Einmal bei einer großen Rundfahrt auf dem Podest zu stehen. „Normalerweise sagt man, dass man bis 32, 33 im besten Alter ist, um aufs Gesamtklassement zu fahren", sagte der 29-Jährige der „Schwäbischen Zeitung": „Ich habe also schon noch ein paar Jahre übrig." Auch für den ganz großen Coup: das Gelbe Trikot bei der Tour de France. „Natürlich hoffe ich, dass mir die Strecke der Tour in den nächsten Jahren wieder mehr entgegenkommt und ich noch mal angreifen kann", sagte er.
In diesem Sommer hält aber der Russe Alexander Wlassow als Tour-Kapitän die Fahnen für Bora-hansgrohe hoch. Der Neuzugang geht auch bei der UAE Tour an den Start und freut sich bereits auf das Kräftemessen mit Überflieger Pogacar. „Ich bin happy mit meiner Form und glaube, dass wir jetzt eine gute Basis haben, auf der wir für die nächsten Ziele aufbauen können", sagte der 25-Jährige, der mit Platz drei beim Eintagesrennen auf Mallorca und dem Triumph bei der Valencia-Rundfahrt einen Einstand nach Maß gefeiert hatte. Den Grundstein für seinen Sieg in Spanien legte Wlassow mit einer beherzten Bergfahrt hinauf zu den Antenas del Maigmo. Dabei unterstrich er seine Ambitionen, bei der Tour im Sommer mehr als nur eine Notlösung in der Kapitäns-Frage sein zu wollen.
Mit der Verpflichtung des Giro-Vierten von 2021 trieb Bora-hansgrohe seinen personellen Umbruch voran. Der Profi, der von Astana-PremierTech kam und einen Dreijahresvertrag unterschrieb, gilt als „eines der größten Talente, was Rundfahrten betrifft", wie Teamchef Ralph Denk betonte: „Wir sind sehr froh, dass er sich für uns entschieden hat. Interesse gab es bekanntlich ja von einigen Teams." Der russische Zeitfahrmeister hat seine Stärken klar im Kampf gegen die Uhr, der große Kletterer ist er (noch) nicht. Dafür ist er mit 68 Kilogramm verteilt auf 1,86 Metern etwas zu schwer und groß, doch bei einem entsprechenden Streckenprofil ist mit ihm zu rechnen. Mit Wlassow wolle man „ganz klar die Grand Tours ins Auge fassen", so Denk – und der Russe hat dasselbe Ziel: „Ich möchte eines Tages eine der großen drei Rundfahrten gewinnen."
„Ich hoffe, unsere Sprinter haben dieses Jahr mehr Glück"
Dann müsste er jedoch Pogacar schlagen, sollte der auch am Start sein. Und das wird schwer genug, schon zum Saisonauftakt in den Vereinigten Arabischen Emiraten. „Tadej scheint dafür geboren zu sein, große Rennen zu gewinnen", sagte Froome. Doch ganz so einfach wie es aussieht sei es nicht, betonte der Hochgelobte, „aber ich schaffe es, den Druck in etwas Positives zu wandeln. Ich benutze es, um meine Motivation aufrechtzuerhalten." Ohne dabei abzuheben. Seine Familie in Slowenien brauche nicht lange, um ihn auch nach den größten Triumphen schnell wieder zu erden, verriet Pogacar: „Sie behandeln mich wie einen Sohn und Bruder, nicht wie einen Tour-de-France-Gewinner."
Auch der deutsche Fahrer Felix Groß, der von der Bahn auf die Straße gewechselt und Teamkollege von Pogacar ist, kann sportlich und menschlich nur das Beste vom Superstar berichten. „Er ist ein cooler Typ, dabei sehr bescheiden", sagte Groß, „es macht einfach Spaß, mit ihm zusammen zu fahren und auch andere Aktivitäten mit ihm zu machen." Neben Groß zählt auch Pascal Ackermann seit diesem Jahr zum UAE-Team –
und der 27-Jährige, der 2019 als erster Deutscher die Sprint-Wertung des Giro d’Italia gewonnen hatte, bekam von Pogacar auch gleich eine Hausaufgabe mit auf den Weg: „Ich hoffe, unsere Sprinter haben dieses Jahr mehr Glück und fahren ein paar Siege ein."
Die großen Triumphe werden aber von ihm selbst erwartet. Auch deshalb startet Pogacar bei den vielen Klassiker-Rennen, denn Vielseitigkeit sei mittlerweile noch wichtiger für Klassementfahrer als vor fünf oder zehn Jahren. „Es gibt gerade auch jede Menge Fahrer, die gut in verschiedenen Arten von Rennen sind. Es ist eine große Zeit für den Radsport", sagte er. Um im modernen Radsport ganz vorne mitspielen zu wollen, müsse man „auf allen Gebieten gut sein: im Sprint, im Zeitfahren, in Eintagesrennen". Auch, um bei einer Grand Tour für das Unerwartete gewappnet zu sein. Dann könne man „auf der Erfahrung aufbauen, die man auf verschiedenen Feldern gesammelt hat".
Diese Sichtweise hat er mit einem der ganz Großes seines Sports, Eddy Merckx, gemein. Der Belgier wurde als „Kannibale" bezeichnet, weil er sich nicht nur auf Rundfahrten konzentrierte, sondern auch bei Eintagesklassikern, auf der Bahn und sogar bei Crossrennen siegte. Gut möglich, dass dieser Spitzname bald auch im Zusammenhang mit Pogacar fällt.